Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Geschichte der Bienen
Achtjährige an diesem Ort, tagein und tagaus, steif gewordene kleine Körper in den Bäumen. Nicht mal eine Kindheit war ihnen vergönnt, wie mir und meiner Generation, denn wir hatten in die Schule gehen dürfen, bis wir fünfzehn gewesen waren.
Es war kein Leben.
Meine Hände zitterten, als ich das Plastikgefäß mit dem wertvollen Staub anhob. Wir müssten alle arbeiten, lautete die Parole, um uns zu ernähren, damit die Nahrung angebaut werden könne, von der wir lebten. Alle sollten einen Beitrag leisten, selbst die Kinder. Denn wer brauche schon Bildung, wenn die Kornvorräte zur Neige gingen? Wenn die Rationen jeden Monat schrumpften? Wenn man abends hungrig ins Bett gehen müsse?
Ich drehte mich um, damit ich auch die Blüten in meinem Rücken erreichen konnte, nur dieses Mal bewegte ich mich zu hastig. Ich stieß gegen einen Ast, den ich nicht bemerkt hatte, verlor das Gleichgewicht und lehnte mich auf die andere Seite, um es wiederzuerlangen.
Und da war es. Dieses trockene Knacken, das wir alle so hassten. Das Geräusch eines brechenden Zweigs.
Die Aufseherin eilte herbei. Sie sah in den Baum hinauf, taxierte wortlos den Schaden und notierte rasch etwas auf ihrem Block, ehe sie wieder ging.
Der Zweig war weder lang noch dick gewesen, aber ich wusste, dass der Überschuss eines ganzen Monats dahin war. Jenes Geld, das eigentlich in die Blechdose im Küchenschrank wandern sollte, in der wir jeden Yuan sparten, den wir übrig hatten.
Ich atmete tief ein. Konnte nicht
daran denken. Mir blieb nichts anderes, als weiterzumachen. Die Hand zu heben, den Pinsel in die Pollen zu tauchen, mich damit vorsichtig den Blüten zu nähern und darüberzustreichen, als wäre ich eine Biene.
Ich sah nicht auf die Uhr, ich wusste, es würde nichts helfen. Ich wusste nur, dass mit jeder Blüte, über die ich mit dem Pinsel strich, der Abend ein Stückchen näherrückte. Und mit ihm die knappe Stunde, die mir jeden Tag mit meinem Jungen vergönnt war. Diese knappe Stunde war alles, was wir hatten, und in dieser knappen Stunde konnte ich vielleicht etwas bewegen. Einen Samen säen, der ihm eine Chance geben würde, die mir selbst nie gegeben war.
William
Maryville, Hertfordshire, England, 1852
Alles um mich herum war gelb, grenzenlos gelb, die Farbe war über mir, unter mir, um mich herum, und sie blendete mich. Dieses Gelb war keine Einbildung, es war real, und schuld daran war die Brokattapete, die im Auftrag meiner Frau Thilda an die Wände gekleistert worden war, als wir dieses Haus vor einigen Jahren bezogen hatten. Damals hatten wir noch viel Platz, und mein kleines Saatgutgeschäft in der Hauptstraße von Maryville florierte. Ich war voller Enthusiasmus und glaubte, ich könnte mein Geschäft mit dem verbinden, was mir wirklich etwas bedeutete: meiner naturwissenschaftlichen Forschung. Doch das war lange her, lange bevor wir diese Unmenge an Töchtern bekamen, und vor allem lange vor meinem endgültigen Gespräch mit Professor Rahm.
Hätte ich geahnt, welche Qualen mir diese gelbe Tapete bereiten würde, ich hätte ihr nie zugestimmt. Die verfluchte Farbe begnügte sich nämlich nicht damit, in der Tapete zu stecken, sie war überall, es machte keinen Unterschied, ob ich die Augen geöffnet oder geschlossen hielt. Sie verfolgte mich bis in den Schlaf und ließ mich niemals entkommen, ganz so, als wäre sie die eigentliche Krankheit. Mein Leiden hatte keine Diagnose, aber viele Namen: Schwarzseherei, Trübsinn, Melancholie. Diese Worte wagte allerdings niemand in meinem Umfeld in den Mund zu nehmen. Unser Hausarzt gab sich ahnungslos. Andauernd warf er mit seinem Medizinerlatein um sich, faselte etwas von Dyskrasie, unausgeglichenen Körpersäften, zu viel schwarzer Galle. Zu Beginn meines Krankenlagers hatte er mich zur Ader gelassen und mir anschließend ein Abführmittel verabreicht, das einen hilflosen Säugling aus mir gemacht hatte. Jetzt wagte er offenbar keine weiteren Behandlungsversuche, weil er alle Kuren für aussichtlos hielt. Sobald Thilda das Thema ansprach, schüttelte er nur den Kopf, und wenn sie protestierte, flüsterte er eindringlich auf sie ein. Hin und wieder konnte ich Wortfetzen aufschnappen, zu schwach, würde es nicht überstehen, keine Besserung. In letzter Zeit kam er immer seltener, was vermutlich damit zusammenhing, dass ich allem Anschein nach ein für alle Mal ans Bett gefesselt bliebe.
Es war Nachmittag, und das Haus unter mir war voller Leben, der Lärm der Mädchen stieg von den unteren Zimmern zu mir herauf, wie Essensdünste drang er durch Bodenritzen und Wände. Ich erkannte die Stimme von Dorothea, der altklugen Zwölfjährigen, sie las aus der Bibel vor, salbungsvoll und zugleich stockend, doch die Worte gelangten nicht bis zu mir, so wie GottesWorte mich neuerdings generell nicht mehr zu erreichen schienen. Die dünne Stimme der kleinen Georgiana quäkte dazwischen, und Thilda mahnte sie streng zum Schweigen. Kurz darauf war Dorotheas Vortrag beendet, und die anderen übernahmen. Martha, Olivia, Elizabeth, Caroline. Welche Tochter sprach gerade? Es gelang mir nicht, sie auseinanderzuhalten.
Eine von ihnen lachte, ein kurzes Auflachen, und erneut hallte es in mir nach, Rahms Lachen, jenes Lachen, das unser Gespräch ein für alle Mal beendet hatte wie ein Hieb mit dem Gürtel auf den Rücken.
Dann sagte Edmund etwas. Seine Stimme war tiefer geworden, sie klang geschliffener, hatte nichts Kindliches mehr an sich. Er war jetzt sechzehn Jahre alt, mein ältestes Kind und mein einziger Sohn. Ich konzentrierte mich auf seine Stimme, wünschte mir so sehr, ich könnte seineWorte verstehen, wünschte, ich hätte ihn bei mir, denn vielleicht war er der Einzige, der mich aufmuntern und mir die Kraft geben konnte, wieder aufzustehen, das Bett zu verlassen. Aber er kam nie, und ich wusste nicht, warum.
In der Küche wurde mit Töpfen geklappert. Das Geräusch der Essenszubereitung weckte meinen Magen, der sich verkrampfte, und ich krümmte mich zusammen wie ein kleines Baby.