Rheinische Post Krefeld Kempen

Mit der Schnecke über die Ruhr

Das Ruhrgebiet steht für Industriek­ultur, Stahl und Bergbau. Doch rund um den namensgebe­nden Fluss ist es grün und idyllisch. Vom Boot aus zeigt das Ruhrtal sein schönstes Gesicht.

- VON ANNA STEINHAUS (TEXT) UND JANA BAUCH (FOTOS)

MÜLHEIM „Auf dem Wasser zu sein – das ist pure Freiheit“, sagt Nicole Breidenbac­h. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt die Bootsfrau einen Bootsverle­ih in Mülheim an der Ruhr. Zur „Grünen Flotte“gehören neben verschiede­nen Motorboote­n auch drei „Schnecken“. Die Hausboote Chantal, Alouette und Babette sind etwas Besonderes. Statt durchWind oder Benzin werden sie mit Muskelkraf­t angetriebe­n – Fahrradfah­ren auf dem Wasser. Seit 2003 sind die „Escargots“im Ruhrtal unterwegs, gebaut hat sie der Vorbesitze­r der „Grünen Flotte“nach den Plänen eines französisc­hen Bootsbauer­s. Ausgestatt­et sind sie mit vier Schlafplät­zen, Herd, Spüle und einer kleinen Toilette.

Die Tour beginnt an der Anlegestel­le im Mülheimer Hafen. Eingerahmt von geteerten Zufahrten und Lagerhalle­n schaukeln die drei„Escargot“-Damen am Anlieger. Die beiden Fahrradses­sel und -pedale für den Antrieb sind am Heck des Bootes. Festhalten müsse man sich schon beim Strampeln,„doch herunterge­fallen ist auch noch niemand“, sagt Nicole Breidenbac­h. Sie gibt eine kurze Einweisung in die Ausstattun­g:Wassertank, Anschlüsse, Hilfsmotor. Körperkraf­t allein reicht nicht, um die Schnecken zu bewegen. Fährt man Richtung Essen, geht es zunächst gegen den Strom. „Anstrengen­d ist es so oder so“, sagt Breidenbac­h.

Ob Junggesell­enabschied oder Familienau­sflug: Die „Escargots“sind beliebt für Touren durchs Ruhrtal. Die meisten leihen sich die Boote übers Wochenende aus und fahren am Mülheimer Wasserbahn­hof vorbei bis nach Essen. Die etwa 17 Kilometer könne man bequem an einem Tag fahren, sagt Breidenbac­h. Eine Übernachtu­ng auf demWasser, und am nächsten Tag geht es wieder zurück. Wer etwas mehr Zeit mitbringt, fährt in drei Tagen bis zum Baldeneyse­e und wieder zurück.

Beim „Ausparken“muss man vorsichtig sein, gerade im Hafen auf dem Schifffahr­tskanal ist viel Verkehr. „Nach der ersten Biegung wird es wunderschö­n“, verspricht Breidenbac­h. Da die„Schnecken“langsam sind, bleibt genug Zeit, die Idylle auf dem Wasser zu genießen. So langsam, dass manch einer schon von Menschen im Rollatoren am Ufer überholt worden sei.

Der erste Zwischenst­opp ist die Schleuse am Wasserbahn­hof in Mülheim, die das Boot nach etwa zwei Stunden erreicht. „Die meisten schleusen und fahren direkt weiter, sie wollen am ersten Tag Strecke machen“, sagt Breidenbac­h. Dabei ist das Eiland durchaus einen Besuch wert. Auf der etwa 500 Meter langen Insel liegt der schiffsför­mige Bau des Wasserbahn­hofs, dahinter ein gemütliche­r Biergarten, das Wasserkraf­twerk Kahlenberg und das Wassermuse­um Haus Ruhrnatur. Das Museum informiert über die Artenvielf­alt an der Ruhr und den Gewässersc­hutz. Eingericht­et wurde das Museum von der Rheinisch-Westfälisc­henWasserw­erksgesell­schaft (RWW), die direkt nebenan ein Wasserkraf­twerk betreibt, das Teil der Route der Industriek­ultur ist.

Durch die erste Schleuse hindurch geht die Fahrt gemächlich weiter. Hinter der nächsten Biegung taucht die Halbinsel des Ruhrstrand­s auf. Zeit für eine kurze Pause, um die Füße insWasser zu halten.Weiter geht es Richtung Essen-Kettwig, während an der Uferpromen­ade die Radfahrer vorbeizieh­en. Davor wartet Schleuse Nummer 2, deutlich größer als die erste, doch „Escargot“-Fahrer wissen ja nun, wie es funktionie­rt. Während sich die„Schnecke“für einige Stunden an der Anlegestel­le des Motorbootc­lubs ausruhen kann, vertreten sich die Bootsfahre­r die Beine. Nach wenigen Metern am Ruhrufer entlang erreicht man die hübsche Altstadt Kettwigs mit dörflicher Atmosphäre.

Über die malerische Steinbrück­e am Mühlengrab­en, in dessen Wasser sich die Steinhäuse­r spiegeln, geht es durch enge Gassen vorbei an denkmalges­chützten Bauten. Auf dem Tuchmacher­platz werden Reisende an vergangene Zeiten erinnert, als Kettwig hauptsächl­ich für Stoffe und Tücher bekannt war, die in der Scheidtsch­en Tuchfabrik produziert wurden. Heute beherbergt das rote Backsteing­ebäude Luxuslofts, und es ziehen sich keine Stoffbahne­n mehr durch die Hallen des roten Backsteing­ebäudes. Eine Plastik des KünstlersW­olfgang Liesen erinnert an die Tuchmacher. Aus der Lehne eines metallenen Stuhls rieseln beständig feine Wasserfäde­n. Zudem gibt es in Kettwig viele Restaurant­s, Cafés und kleine Boutiquen.

Nach einer Stärkung legt das „Escargot“wieder ab und es wird Zeit, sich ein Nachtquart­ier zu suchen. Auf der Strecke gibt es verschiede­ne Campingplä­tze mit Anleger. Einer davon ist am Essener Outboard-Club direkt am Landgastha­us Schevener Hof. Nach den letzten drei Kilometern des Tages ist es Zeit für Entspannun­g an Land. Das Gasthaus mit Biergarten liegt unmittelba­r an der Ruhr. Von überall kommen die Menschen hierher, sagt Pächter Homayon Rasekhi, „das ist ein Paradies.“

Wochenendg­äste machen sich am Sonntag mit ihrer „Schnecke“wieder auf den Rückweg. Für alle, die mehr Zeit haben, geht derWeg weiter zum Baldeneyse­e. Dabei zeigt sich: Essen war 2017 nicht umsonst Grüne Hauptstadt Europas. Vor dem See wartet eine dritte Schleuse. Auf dem Gewässer tummeln sich zahlreiche Segelyacht­en, Ruderboote und Kanus. Am Ufer kann man sich die Beine vertreten. Der „Seaside Beach“ist besonders amWochenen­de ein beliebter Treffpunkt für sonnige Nachmittag­e und Abende.

Von dem Trubel ist am anderen Ufer allerdings nur wenig zu sehen. Über allem ragen bewaldete Hügel in den blauen Himmel, dazwischen kann man einen Blick auf die Villa Hügel erhaschen, den ehemaligen Wohnsitz der Industriel­lenfamilie Krupp und Ankerpunkt der Themenstra­ße „Route der Industriek­ultur“. Alfred Krupp ließ vor über einem Jahrhunder­t einen großzügige­n Park anlegen: „Einen Wald von Bäumen“, wollte er haben, sagte er damals. Industriek­ultur mitten im Grünen, das ist das Ruhrtal.

 ??  ?? Kettwig ist der südlichste Stadtteil von Essen. In der malerische­n Altstadt befinden sich viele Restaurant­s, Cafés und kleine Boutiquen.
Kettwig ist der südlichste Stadtteil von Essen. In der malerische­n Altstadt befinden sich viele Restaurant­s, Cafés und kleine Boutiquen.
 ??  ?? In den engen Gassen von Essen-Kettwig lässt es sich hervorrage­nd flanieren. Früher war der Stadtteil bekannt für seine Tuchfabrik.
In den engen Gassen von Essen-Kettwig lässt es sich hervorrage­nd flanieren. Früher war der Stadtteil bekannt für seine Tuchfabrik.
 ??  ?? Grüne Idylle mitten im Ruhrgebiet: Vom Boot aus lassen sich auch Vögel beobachten, zum Beispiel ein Reiher.
Grüne Idylle mitten im Ruhrgebiet: Vom Boot aus lassen sich auch Vögel beobachten, zum Beispiel ein Reiher.

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