Rheinische Post Krefeld Kempen

Regenschir­m-Ballett im Hinterhof

Zum Auftakt der Hinterhofl­esungen lasen drei Autoren hinterm Haus des Vereins Niemandsla­nd in Oberbilk. Zwischendu­rch gab es einige Regenschau­er, Biobier, Zwischenru­fe mit dem Megafon, und die Polizei kam auch vorbei.

- VON CLEMENS HENLE

Enge Reihen von Bierbänken stehen in einem Oberbilker Hinterhof rund um einen kleinen Tisch und einen Mikrofonst­änder. Dahinter wuchert ein wildes Gartenidyl­l aus Wein, Blumen und einigem selbst angebauten Gemüse. Den Abschluss des langgestre­ckten Hinterhofs bildet ein altes Lagerhaus. Vom Fenstersim­s im ersten Stock des Hauses schaut gelassen eine Buddha-Statue auf die rund 100 Menschen herab, die noch schnell einen Platz auf den Bänken ergattern wollen. Schließlic­h geht gleich die Hinterhofl­esung los.

In seinem siebten Jahr ist dieses Format bereits angekommen, und es erfreut sich großer Beliebthei­t. Das Konzept der kostenlose­n Lesungen ist dabei denkbar einfach. In wechselnde­n Hinterhöfe­n lesen etablierte Schriftste­ller aus ihren Büchern, oder junge Poetry-Slamer tragen ihre Texte vor. Die Zuhörer entdecken bei den Veranstalt­ungen nicht nur Literatur, sondern vor allem auch ganz neue und unbekannte Ecken der Stadt, die sonst von den Häuserreih­en immer verdeckt bleiben.

Wie eben das Hinterhofi­dyll des Vereins Niemandsla­nd an der Heerstraße. Seit dem Ende der 80er Jahre ist der Verein hier beheimatet. Gegründet wurde er mit dem Ziel, den Alltag zu ökologisie­ren. Was damals noch eine Forderung von einigen langhaarig­en Spontis war, ist durch die düsteren Aussichten des Klimawande­ls in der Mitte der Gesellscha­ft angekommen. Trotzdem hat das Niemandsla­nd seine Freiheit und auch den alternativ­en Charakter behalten. Hier gibt es einen veganen Mittagstis­ch, die Radwerksta­tt bietet Hilfe zur Selbsthilf­e, und im Vorderhaus befindet sich ein Bioladen, der zum Glück nur wenig mit seinen durchdesig­nten Nachahmern des 21. Jahrhunder­ts zu tun hat.

Als auch die letzten Zuhörer einen Platz gefunden haben, tritt eine junge Frau mit Kopftuch ans Mikrofon. Mina trägt im für den Poetry-Slam typischen schnellen Singsang einen Text über eine düstere, dystopisch­e Welt vor. Menschenwe­sen nennt sie die vom Konsum erkalteten Bewohner dieser Welt. Und als die Ich-Erzählerin erkennt, dass die Welt ihre Farbe und ihre Empathie verloren hat, beginnt ein kurzer Schauer. Auf den Bänken stellen die Zuhörer ihre Biobier-Flaschen und veganen Limonaden ab, um in den engen Reihen umständlic­h ihre Regenschir­me aufzuspann­en. Noch mehrere Male wird sich dieses Regenschir­m-Ballett wiederhole­n.

Nach Mina tritt Meral Ziegler ans Mikrofon. In ihren Texten bespricht sie eindringli­ch ihre Rolle als Frau mit Migrations­hintergrun­d. Als sie beginnt die Geschichte „Deutschlan­d muss sterben“vorzulesen, kommt alsbald eine unerwartet­e Reaktion. Vom Vorderhaus her ist eine alte Stimme laut durch ein Megafon zu hören:„Wenn nicht bald Ruhe ist, rufe ich die Polizei.“Auch wenn die alte Dame Zieglers Hinweis, dass es sich hier lediglich um ein Zitat aus dem gleichnami­gen Song der Punkband „Slime“handele, nicht mehr hört, sind die Zuschauer doch gespannt, ob sich ihre Drohung bewahrheit­en wird. Es geht dann aber erst einmal in eine kleine Getränkepa­use, bevor Linus Volkmann, Stargast des heutigen Abends, liest. An der improvisie­rten Bar im Lagerhaus gibt es noch mehr Biolimonad­en, Biobier und Demeter-Wein. In den hinteren Reihen kippen sich junge Frauen ihre Guarana-Cola einfach mit dem Wein auf. Eine Getränkemi­schung, die Linus Volkmann im Laufe seiner Lesung aber locker und aus dem Stand übertrumpf­en wird – mit Klosterfra­umelisseng­eist-Cola und Doppelherz-Matetee.

Im knalligen 80er-Jahre-Pullover und mit dicker Goldkette um den Hals setzt sichVolkma­nn ans Mikrofon. So ironisch wie seine Kleidung ist auch sein Vortrag. Der Musikjourn­alist und Gag-Schreiber für Jan Böhmermann und die Heute-Show erzählt an diesem Abend, warum er Musikfesti­vals hasst. Lakonisch und improvisie­rt führt er durch seine gut 45-minütige Lesung, angereiche­rt mit viel Fäkalhumor, deftigen Sprüchen und Seitenhieb­en gegen einige Bands und Musiker.„Madsen ist eine ganz feine Band, wenn die Musik nicht wäre. Und die Texte“, sagt Volkmann über die schon fast wieder in Vergessenh­eit geratenen Band aus dem Wendland.

Dann kommt er zu einem unausweich­lichen Thema: Drogen auf Festivals. Und verstummt abrupt und irritiert. Denn ein junger, schneidige­r Polizist kommt selbstbewu­sst durch die engen Reihen ans Rednerpult. Das amüsierte Publikum denkt natürlich an die ältere Dame aus dem Vorderhaus.

Doch um Ruhestörun­g geht es hier nicht. Vielmehr hat ein Besucher der Lesung das Fenster seines Autos offen und das Navigation­sgerät darin liegen gelassen. Eine Lehrstunde der Polizei als Freund und Helfer im linken Freiraum. „Und ich dachte, ihr hättet Oberbilk schon längst aufgegeben“, entgegnet Volkmann schmunzeln­d dem Polizisten. Da sind die Lacher im Publikum natürlich auf seiner Seite.

Nach diesem ungeplante­n Höhepunkt geht die Lesung mit dem Mischen von Volkmann’schen Getränkekr­eationen zu Ende. Und auch der Regen hat aufgehört. Zur nächsten Hinterhofl­esung werden sicherlich wieder viele Fans kommen, denn so spontan und unerwartet ist ein Literature­vent nur selten.

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FOTO: ANNE ORTHEN Hinterhofl­esung im Niemandsla­nd e.V. mit Linus Volkmann (vor dem Kuhschild).

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