Rheinische Post Krefeld Kempen

Ein guter Junge

Vor zwei Jahren berichtete­n wir über den Drittkläss­ler Matthis Franken, der als Inklusions­kind die Grundschul­e in Uedem besuchte. Was ist aus ihm geworden?

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nachher frei entscheide­n zu können, auf welche weiterführ­ende Schule er geht. Er soll lernen, selbständi­g seine Hausaufgab­en zu machen. Deshalb zieht die Mutter sich allmählich zurück. „Es musste ja nicht immer alles perfekt sein“, sagt sie.

Beim zweiten Durchlauf in der vierten Klasse fällt ihm vieles leichter. Als er die Fahrradprü­fung wiederhole­n soll, sagt er zur Lehrerin: „Sie machen den Führersche­in doch auch nicht noch mal.“Sie gibt ihm recht. „Er ist gerne zur Schule gegangen, weil er gerne Teil der Klasse war“, sagt Franken. Aber er ist auch immer froh, frei zu haben, repariert in der Schule lieber einen Stuhl, als ein Buch zu lesen.

Als die Eltern überlegen, in welche weiterführ­ende Schule ihr Sohn gehen soll, wägen sie zwischen Realschule und Hauptschul­e ab. Die Realschule in Kalkar hätte ihn wohl genommen, aber er hätte die ersten zwei Jahre dort auf jeden Fall machen müssen und wäre dann vielleicht doch auf die Hauptschul­e gekommen. „Ich möchte ein glückliche­s Kind – kein perfektes“, sagt seine Mutter. In wenigen Wochen wird er also auf eine Hauptschul­e gehen, die Gustav-Adolf-Schule in Goch, weil es in Uedem keine Hauptschul­e mehr gibt.

„Der Besuch der Hauptschul­e verwehrt ihm nichts“, sagt Franken. Sowieso versteht sie nicht, warum Hauptschul­en einen so schlechten Ruf haben. Schule für praktisch begabte Kinder solle sie heißen, dann wäre das Stigma weg, sagt sie. Die Schule in Goch hat einen hohen Praxisante­il, will beim Übergang von der Schule zur Ausbildung helfen. Ziel ist der Realschula­bschluss, sagt Franken. Mal schauen, wo es danach weitergeht. Matthis’ Plan ist, den Hof desVaters zu übernehmen. Plan B ist eine Stelle im Garten- und Landschaft­sbau. Schon jetzt haben ihm Chefs eine Ausbildung in Aussicht gestellt, weil sie wissen, dass er arbeiten kann. Trecker fährt er seit Jahren wie ein Profi, natürlich nur auf dem eigenen Feld. Sprechen ist nicht so seine Sache, das überlässt er beim Treffen mit dem Reporter größtentei­ls seiner Mutter.

Doch die Schule hat zwei Nachteile, die miteinande­r zusammenhä­ngen. Der Ganztag ist verpflicht­end, viermal pro Woche sitzen die Schüler von 8.30 Uhr bis 16 Uhr in der Schule. Dazu gehören auch eine Stunde fürs Mittagesse­n und eine Stunde, um sich zu erholen.

Der Tag ist also lang – für Matthis wird er noch länger. Die Busverbind­ung ist eine Katastroph­e. Er müsste um 6.30 Uhr das Haus verlassen und wäre erst gegen viertel vor sechs wieder zuhause. Das sind mehr als elf Stunden. „Beraubung d. Kindheit“hat Franken auf den Zettel mit denVerbind­ungen geschriebe­n. Der Bus aus Uedem steuert die Hauptschul­e in Goch gar nicht an, sondern bloß die Realschule. Von dort kann Matthis zwar ein paar Hundert Meter laufen, doch weil der Unterricht erst um halb neun beginnt, ist er mehr als eine Dreivierte­lstunde zu früh da. Auf dem Rückweg muss er in Uedem eine halbe Stunde auf den Bus nach Keppeln warten. Dabei ist sein Zuhause nur zehn Kilometer von der Schule entfernt.

Franken hat sich an den Uedemer Bürgermeis­ter gewandt, nun prüft die Stadt Goch als Schulträge­r, ob sich etwas machen lässt. Drei Stunden Schulweg sind laut NRW-Schulgeset­z zulässig, die erreicht Matthis nicht. Doch dort steht auch, dass regelmäßig­eWartezeit­en in der Schule vor und nach dem Unterricht nicht mehr als 45 Minuten betragen sollen. Das wird morgens – wenn auch knapp – übertroffe­n. Franken meint: „Ich bin mir sicher, viele Kinder gehen nicht zur Hauptschul­e, obwohl es die bessere Schule wäre – bloß weil der Schulweg so lang ist.“Wer als Uedemer die anderen weiterführ­enden Schulen in Goch besucht, für den ist der Schulweg kürzer. Gymnasium, Realschule und Gesamtschu­le werden direkt angefahren, die erste Stunde beginnt dort auch früher. Franken hält das für eine zusätzlich­e Einschränk­ung in einer für sie ohnehin recht überschaub­aren Schullands­chaft im Kreis Kleve.

Sollte die Stadt Goch keine andere Lösung finden, wird Franken ihrem Sohn den Elf-Stunden-Tag nicht zumuten und mit einer anderen Mutter aus dem Dorf eine Fahrgemein­schaft bilden. Das ist ganz im Sinne von Matthis, der glaubt: „Sonst hätte ich keine Zeit für gar nichts.“Ob er sich auf die Schule freut? „Auf Schule freut man sich nie.“

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FOTO: MARKUS VAN OFFERN Matthis Franken auf dem Bauernhof seiner Familie.

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