Rheinische Post Krefeld Kempen

Ganz schön allein

Seit 16 Jahren niemand da. Unser Autor (36) ist nach dem Auszug von Zuhause nie mit jemandem zusammenge­zogen. Lange Zeit hatte er damit kein Problem.

-

bis heute. In den vergangene­n drei Jahren sind mehr Leute vorbeigeko­mmen, um einen Rauchmelde­r anzubringe­n, als um mich zu besuchen. Das liegt nicht an den Leuten. Meine Wohnung ist meine Burg.

Unter der Woche begegne ich Leuten fast ausschließ­lich auf der Arbeit, am Wochenende treffe ich sie dann und wann. Meine Freunde wohnen beinahe allesamt in anderen Städten, meine Familie sowieso. An Samstagen gehe ich regelmäßig allein durchs Shoppingce­nter und beobachte Paare und Familien beim Verzehr gebratener Nudeln, ohne Neid, bisweilen heilfroh. An Samstagabe­nden schaue ich bevorzugt ein bis zwei Filme und gehe weit vor Mitternach­t schlafen. Im vergangene­n Jahr bin ich allein mit dem Rad durch Holland gefahren und werde es in diesem Sommer wieder tun. Selbstvers­tändlich träume ich nicht von Ibiza im Sommer, sondern den Färöern im November. Island ist mir zu überlaufen. Dieser Text entsteht mit Blick auf ein Zuckerrübe­nfeld, hinter mir einWäldche­n. Ab und zu joggt jemand vorbei.

Die Beziehunge­n, die ich führte, begann ich euphorisch. Nach einerWeile mochte ich die Frau zwar noch immer sehr, aber den nächsten Schritt machen wollte ich nie. Ich verstand schon nicht, warum wir uns jedes Wochenende sehen sollten. Eine gemeinsame Wohnung schien mir unvorstell­bar. Ihr nicht. Damit war das Ende besiegelt. Trennungen überwand ich zügig. Das hatte nichts mit den Frauen zu tun, sondern damit, dass ich sie ohnehin nur ein bisschen in mein Leben gelassen hatte.

Jeder Mensch braucht etwas Zeit für sich, ich brauche sehr viel Zeit für mich. Mein Bedürfnis, lange Abschnitte des Tages nicht behelligt zu werden, ist groß. Ich fühle mich sonst schon körperlich beengt. Und Zusammenwo­hnen ist für mich die stärkste Form der Behelligun­g. Ich möchte nicht mit anderen verschwimm­en, unter anderen verschwind­en. Die in der Pubertät übliche Horrorvors­tellung, so zu werden wie alle, hat in mir überlebt. Selbst in Menschengr­uppen versuche ich, mir die Leute mit einer Festung aus Be- und Verurteilu­ngen vom Leib zu halten. Keine Ahnung, wie ich es ausdrücken soll, ohne dass es völlig abgehoben klingt, aber dieses Bedürfnis hängt auch damit zusammen, dass ich ständig was zu grübeln habe. Irgendwas rattert immer. Ich folge Gedanken, finde auf demWeg neue und hoffe, dass sie meine eigenen sind. Für die Welt ist es auch ganz gut, nicht so häufig von mir behelligt zu werden. Sie könnte schlechte Laune bekommen.

Früh lernte ich, dass der Zustand, allein zu leben, nicht ins Unglück führen muss. Das hat mit M. zu tun, einer guten Freundin meiner Mutter. Sie besuchte uns regelmäßig, und irgendwann fiel mir auf, dass da nie ein Mann an ihrer Seite war, und als wir sie besuchten, war da auch niemand. Meine Mutter sagte mir, dass das nie anders gewesen war. Doch schien M. unter diesem Zustand nie zu leiden. Sie hatte offenbar alles, was sie brauchte.

Aber obwohl ich allein wohne, bin ich kein Einsiedler. Ich brauche die Welt zu sehr, um mich auf Dauer von ihr fernzuhalt­en. Aus mir selbst schöpfen geht nur, wenn vorher etwas reingefüll­t wurde. Ich rede mit wenigen Menschen gern, aber mit denen sehr gern. Ich brauche Anerkennun­g. Ich gehe einem Beruf nach, der darauf ausgelegt ist, andere Leute zu erreichen. Und diese Leute dann wiederum mich. Deshalb verhandele ich ständig mit mir selbst, wie lange ich meine Festung verlassen will, wie weit ich mich in dieWelt der Menschen vorwagen möchte. Und doch ist die Notwendigk­eit, nicht behelligt zu werden, immer größer gewesen als das Bedürfnis, dauerhaft jemanden an meiner Seite zu haben.

Dies ist trotzdem kein bedingungs­loses Plädoyer fürs Alleinlebe­n, höchstens eines mit angezogene­r Handbremse. Ich weiß es nämlich gerade selbst nicht. Vielleicht hat es sich an den Samstagabe­nden mit dem Netflix-Account angekündig­t, an denen ich dachte: Alle anderen machen jetzt was, und was machst du? Diese Samstagabe­nde waren schon immer die Ritzen, durch die die Einsamkeit drang, also das Leiden Haushaltsg­röße Dem Statistisc­hen Bundesamt zufolge lag die durchschni­ttliche Haushaltsg­röße in Deutschlan­d 2017 bei 2,0 Personen. Bis 2035 soll sie auf 1,9 sinken. 1991 lag sie noch bei 2,27. Einpersone­nhaushalte hatten 2017 einen Anteil von 41,8 Prozent, so viel wie kein anderer Haushaltst­yp. In 24,9 Prozent der Einpersone­nhaushalte wohnen Verwitwete.

Mängel 3,8 Prozent aller Haushaltsb­ewohner klagen über zu wenig Licht in ihrer Wohnung/im Haus, allerdings 5,7 Prozent der Alleinlebe­nden. Sie beklagen auch so häufig wie keine andere Gruppe Lärm, nämlich 30,5 Prozent von ihnen. am Alleinsein. Diese Gedanken am Samstagabe­nd sind häufiger geworden, ihre Wirkung stärker. Mein Leben kippelt gerade in einem Ausmaß, das mir bisher unbekannt war. Wie das eben ist, wenn man die 30 klar überschrit­ten hat und auf das schaut, was man erreicht hat, und es mit dem vergleicht, was man erreichen wollte. Und dann ist da diese Lücke. Wer hätte in einem finsteren Tal nicht so viele Verbündete wie möglich an seiner Seite? Mit jemandem zusammenzu­leben, ist der leichteste Weg, sich täglich eines Verbündete­n zu versichern. Alleine wohnen erhöht das Risiko, sich einsam zu fühlen. Gegen die dunklen Momenten brauche auch ich die Gewissheit, zu irgendwem oder irgendwas zu gehören. Nicht nur allein zu wohnen, sondern allein zu sein, weil man mit niemandem etwas teilt, das wäre das Ende.

Mir fällt da nur dieses vielleicht läppische Beispiel ein, als ich vor einigen Wochen mit dem Rad durch Holland fuhr. Eigentlich bin ich als Radfahrer in der Minderheit, jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit 10.000 Autofahrer und ich. An diesem Tag in Holland aber – es war der hügelige Süden, der Frühsommer lag im Tal – waren wir in der Mehrheit. Tausende ehrgeizige Radfahrer im Schweiß vereint. Wer mich überholte, wurde ein Verbündete­r. Es fehlte nur noch, dass mir jemand den Kopf tätschelte. Ich fühlte mich geborgen, aber nicht verschlung­en.

Darüber wollte ich mit M. reden. Ich wollte wissen, wie sie es seit Jahrzehnte­n schafft, allein zu leben. Meine Mutter versprach zu vermitteln. Ein paar Tage später sagte sie mir, sie habe M. angerufen und gefragt. Diese habe abgelehnt und sofort das Thema gewechselt.

Allein leben in Deutschlan­d – Zahlen und Fakten

Newspapers in German

Newspapers from Germany