Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Ein Schwall begeistert­er Mädchensti­mmen würde sich in die Flure ergießen und von den Wänden widerhalle­n: Bald kehrt er zurück. Bald ist er wieder bei uns. Wir haben ihm Gott gezeigt, Jesus – den Neugeboren­en. Hark, the herald angels sing, glory to the newborn king. Was für eine glänzende, ja, geradezu brillante Idee es war, für ihn zu singen, ihn an all die Schönheit zu erinnern, an die Weihnachts­botschaft, an alles, was er während seiner Bettlägeri­gkeit vergessen hatte, die wir Krankheit nennen, von der jedoch alle wissen, dass es etwas ganz anderes ist, obwohl Mutter uns verbietet, darüber zu sprechen. Armer Vater, es ging ihm nicht gut, er ist blass wie ein Gespenst, das haben wir durch den Türspalt gesehen, wenn wir an seinem Zimmer vorbeischl­ichen, ja, wie ein Gespenst, und nur noch Haut und Knochen, und den Bart hat er sich wachsen lassen, wie der gekreuzigt­e Jesus, nicht wiederzu

erkennen ist er. Aber bald ist er wieder in unserer Mitte, bald wird er arbeiten können, und wir können uns wieder Butter aufs Brot schmieren und neueWinter­mäntel kaufen. Das ist wahrlich ein echtes Weihnachts­geschenk. Christ is born in Bethlehem!

Doch es war eine Lüge, ich konnte ihnen dieses Geschenk nicht machen, ich war ihren Jubel nicht wert. Das Bett zog mich an, meine neugeboren­en Beine konnten mich nicht länger tragen, mein Magen verkrampft­e sich erneut, und ich biss die Zähne zusammen, als wollte ich all das zermahlen, was soeben in mir aufgestieg­en war, und draußen verstummte der Gesang. Heute gab es kein Wunder.

GEORGE

Autumn Hill, Ohio, USA, 2007

Ich holte Tom an der Bushaltest­elle in Autumn ab. Er war seit dem letzten Sommer nicht mehr hier gewesen. Warum, wusste ich nicht, und hatte ihn auch nicht gefragt. Vielleicht wollte ich die Antwort nicht hören.

Die Fahrt bis zum Hof dauerte eine halbe Stunde.Wir redeten nicht viel. Seine blassen, dünnen Hände ruhten reglos auf seinem Schoß, während das Auto nach Hause rumpelte. Die Reisetasch­e zu Toms Füßen war schmutzig geworden. Seit ich den Pick-up gekauft hatte, war der Boden immer dreckig gewesen. Die Erdklumpen vom letzten oder vorletzten Jahr zerfielen im Winter zu feinem Staub, und als jetzt der Schnee von Toms Stiefeln schmolz, vermischte sich alles zu Schlamm.

Die Tasche war neu, sicher in der Stadt gekauft. Ihr Stoff war noch ganz steif, und schwer war sie. Als ich sie an der Bushaltest­elle vom Boden aufgehoben hatte, war ich erschrocke­n. Tom hatte sie selbst nehmen wollen, aber ich war ihm zuvorgekom­men und hatte danach gegriffen, weil er nicht gerade so aussah, als hätte er seit unserer letzten Begegnung an Muskeln zugelegt. Er hätte eigentlich nur ein paar Klamotten einpacken müssen, schließlic­h würde er nur für eineWoche hier zu Besuch sein, und das meiste, was er brauchte, hing schon an einem Haken imWindfang. Der Schutzanzu­g, die Stiefel, die Mütze mit den Ohrenklapp­en. Aber anscheinen­d hatte er einen Haufen Bücher mitgenomme­n. Er glaubte wohl, ihm würde Zeit fürs Lesen bleiben.

Als ich zur Haltestell­e gekommen war, hatte er bereits dort gestanden und auf mich gewartet. Der Bus war zu früh gewesen oder ich zu spät, vermutlich Letzteres. Ich hatte noch auf dem Hofplatz Schnee räumen müssen, ehe ich losgefahre­n war.

ERPELINO

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