Rheinische Post Krefeld Kempen
Aufbruch am Ararat
Armenien wirkt merkwürdig aus der Zeit gefallen. In ihren geduckten Kirchen und mit einer Sammlung uralter Handschriften trotzen die Bewohner des kleinen Kaukasus-Landes den Wirrungen einer komplizierten Gegenwart.
„Ssssscht!“Lina Pirandova pfeift wie siedendes Wasser in einem Teekessel. Energisch klopft die kleine Frau dazu mit ihrem Zeigestock auf die hölzernen Vitrinenrahmen in der Handschriftensammlung Metanadaran. Das macht sie seit 40 Jahren so. Oberhalb der armenischen Hauptstadt Jerewan liegen 40.000 Manuskripte sorgsam in einem tempelartigen Sowjetbau aus den 1950er-Jahren verwahrt. Darunter sind griechische Predigten auf Pergament, hebräische auf Palmblättern, russische auf Birkenrinde und auch ein Kompendium aus 600 Blättern in 28 Bänden – eingebunden in 25 Kilogramm Silber und angekauft im Konstantinopel der Byzantiner im Jahr 1202. Ein begnadeter Mönch habe es im Mittelalter geschafft, in seinem Leben 152 Bücher abzuschreiben, bevor er erblindete, flüstert Pirandova voller Ehrfurcht.
Vor allem aber hütet Pirandova mit ihrem Holzstock bewaffnet wie ein Feuer speiender Volksschuldrache 1800 Texte in armenischer Schrift. Einige Texte gehören zu den ältesten Überlieferungen des Christentums und sind so alt, dass die Seiten inzwischen versteinert seien, sagt Pirandova.
In keinem anderen Land der Welt würde der erste Gang auf einer Rundreise in die dunklen Fluchten eines Archivs führen, dessen Inhalte sich nur Experten erschließen. Alt-Armenisch, das im Jahr 451 kodifiziert wurde, verstehen schließlich nur orthodoxe Priester und einige wenige Armenisten. In Armenien ist das anders. Denn in Metanadaran konservieren die Armenier den Ursprung ihres Volkes – den Wirrungen der Gegenwart zum Trotz. 1991 haben sich die Armenier vom Sowjetreich losgesagt. Doch eingeklemmt zwischen der Türkei im Westen und Aserbaidschan im Osten – mit freundlichen Beziehungen lediglich zum schlecht beleumundeten Iran und zu dem latent von Russland bedrohten Georgien – sucht das kleine Land von der Größe Brandenburgs noch nach seinem Platz in der Welt. Ein Großteil der Armenier lebt verstreut in der Diaspora und zahlt bis heute für den Unterhalt der Landsleute.
So führen auch die Wege aus der Hauptstadt hinaus sternförmig zu allerhand Zeugnissen glanzvoller Zeiten. Am Abhang des ewig mit Schnee bedeckten Ararat, der zwar im Staatswappen prangt, aber selbst schon auf türkischem Boden liegt, thront das Kloster Chor Virap fotogen auf einer Tuffsteinklippe über der fruchtbaren Ebene. Der Name bedeutet übersetzt „tiefer Kerker“. Wer keine Platzangst kennt, der windet sich in einer restaurierten Kapelle eine steile Eisenleiter acht Meter durch einen engen Schacht hinab in ein rundes Verlies. In diesem Loch soll Gregor der Erleuchter jahrzehntelang geschmachtet haben, bevor er den armenischen König im Jahr 301 vom rechten Glauben überzeugen konnte. Armenien gilt damit als das älteste christliche Land der Welt.
„Wo zwei Armenier sind, steht mindestens eine Kirche“, lautet ein gängiger Witz im Land. Tatsächlich kann man fast sicher sein, an einer abgelegenen, landschaftlich exponierten Stelle mindestens auf eine Kapelle zu treffen. Größe ist dabei nicht erstrebenswert. Fast geduckt trotzen die landestypischen Kreuzkuppelkirchen – viele von ihnen inzwischen unter UNESCO-Schutz – oberhalb von Schluchten, auf Bergen, in Wäldern oder oberhalb des türkisblauen Sewan-Sees den Jahrhunderten.
Diese Gotteshäuser sollen keine Angst verbreiten, sondern Freude.„Deshalb hängen darin keine Bilder vom gekreuzigten Jesus“, erklärt Tadevosyan. Und auch der Satan ist allenfalls in einen Winkel der Schmuckreliefs verbannt. Dafür gibt es stets einen großen Vorraum, der als Treffpunkt für die Frauen, für Feste und im Winter auch als Stall fürs Vieh genutzt werden konnte.
Auch außerhalb der Kirche gibt sich das Volk nach der samtenen Revolution im vergangenen Jahr, als zwei Wochen öffentlicher Picknicks auf Hauptstraßen den Präsidenten zum Rücktritt veranlassten, zuversichtlich. Jeden Abend suchen Tausende Abkühlung an den Fontänen vor dem Historischen Museum auf dem Platz der Republik. Im Café Rich vor der Oper kosten wohlhabende Paare internationale Spirituosen oder armenischen Wein. Im Wein-Dorf Areni wird der am Straßenrand in alten 1,5-Liter-Cola-Flaschen verkauft, damit er sich besser über die iranische Grenze schmuggeln lässt. In den Parks sieht man Armenier beim Nationalsport Schach – bis heute ein Pflichtfach in der Schule. Und in seiner Gartenlaube präsentiert der Musiker Karen Hakobyan mit verschiedenen Flöten und an einem Klavier von 1806, das angeblich einst die Romanovs für die britische Königin Viktoria kauften, armenische Volksweisen.
Wer heitere Tanzmusik erwartet, wird indessen enttäuscht. Der Völkermord an den Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat in der Musik wie der Mentalität tiefe Spuren hinterlassen. „Die Armenier müssen dieses Kapitel ihrer Geschichte erst noch abschließen“, glaubt Paul Wernig. Der 18-Jährige aus dem Umland von Dortmund ist nach dem Abitur als Freiwilliger über „Weltwärts“, den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst der Bundesrepublik, ins Land gekommen. Im Historischen Museum erklärt er bewundernswert kompetent Touristen die bewegte jüngere Vergangenheit.
Und schickt sie natürlich zur Schwalbenburg, der beeindruckenden Genozid-Gedenkstätte auf dem Weg zum Internationalen Flughafen. Hier offenbart sich die andere, weniger heitere Seite. Vor allem die Exil-Armenier bestehen auf einer Entschuldigung der Türkei, bevor die Grenzen sich öffnen könnten. Die Wirtschaft stagniert. Die alten Fabriken aus Sowjetzeiten rotten vor sich hin. Viele Ehemänner fahren als Schwarzarbeiter nach Russland. Mit dem bunten Treiben in Jerewan lässt sich das nur schwer vereinen.