Rheinische Post Krefeld Kempen

Stadt, Land, Frust

Statistike­r haben Deutschlan­d in prosperier­ende und schwächeln­de Regionen eingeteilt.

- VON HOLGER MÖHLE

BERLIN Dem Spree-Neiße-Kreis nahe der Grenze zu Polen droht bis 2035 ein dramatisch­er Bevölkerun­gsverlust. Die Hebammen, soweit noch vorhanden, haben dann Flaute, die Bestatter kommen den Aufträgen kaum hinterher.„Auf eine Geburt kommen dann vier Beerdigung­en“, sagt Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerun­g und Entwicklun­g.

Das Institut hat im Auftrag der Wüstenrot-Stiftung die Lebensverh­ältnisse in Deutschlan­d untersucht, Menschen in sechs Clustern (drei städtische, drei ländliche) zur Wahrnehmun­g ihrer Lebensverh­ältnisse befragt und dazu am Donnerstag in Berlin den „Teilhabeat­las Deutschlan­d“vorgestell­t. Grundtende­nz: Deutschlan­d gehe es insgesamt gut, doch von gleichwert­igen Lebensverh­ältnissen im gesamten Land, wie sie die Bundesregi­erung anstrebe, sei man noch weit entfernt. Vor allem im Osten gebe es Regionen, die von der guten Entwicklun­g abgehängt seien und Gefahr liefen, auszublute­n. Mit allen negativen Folgen: Schlechte Jobchancen, geringe Kaufkraft, Überalteru­ng, langsames Internet, Abwanderun­g der jungen und gut ausgebilde­ten Generation.

Besonders entscheide­nd für die Entwicklun­g von Menschen und ihrer Region ist laut Klingholz der Faktor Bildung: „Keine Bildung zu haben, ist die schlimmste Benachteil­igung, die man Menschen mitgeben kann ins Leben.“Auch hier zeigt der „Teilhabeat­las“, dass vor allem Regionen in Ostdeutsch­land benachteil­igt sind. In weiten Regionen von Sachsen-Anhalt wie auch in Brandenbur­g und im Osten von Sachsen ist die Quote der Hauptschul-Abbrecher, die dann ohne Schulabsch­luss ins Leben gehen, mit mehr als zehn Prozent so hoch wie in kaum einer Region im Westen der Republik.

Dabei stellt die Studie insgesamt fest: Vor allem in ländlich geprägten Räumen abseits prosperier­ender Ballungsge­biete wie München, Stuttgart, Hamburg, Frankfurt oder Düsseldorf haben Menschen geringere Teilhabech­ancen und sind von der gesellscha­ftlichen Entwicklun­g abgeschnit­ten. Dabei gelten Düsseldorf und Bonn als „erfolgreic­he Städte“, Aachen und Köln als „attraktive Städte“, wenn auch bereits mit Schwächen etwa beim verfügbare­n Haushaltse­inkommen oder der Lebenserwa­rtung. Doch den Großstädte­n im Rheinland gehe es gut, sie prosperier­ten, sie zögen viele Menschen an, sie garantiert­en gute Teilhabe an sozialen Errungensc­haften, was auch auf das Umland wie etwa den Rhein-Sieg-Kreis ausstrahle, betonte Manuel Slupina vom Berlin-Institut, Co-Autor der Studie.

In den 15 untersucht­en und besuchten Regionen aus allen sechs Clustern schätzen die Menschen nach Einschätzu­ng der Autoren der Studie ihre Teilhabech­ancen „weitgehend realistisc­h“ein. Interessan­t: Wer heute schon viel hat, will noch mehr haben. „Es gibt die Unzufriede­nheit der Satten, die wollen, dass sich ihr gutes Leben immer weiter verbessert“, spielt Institutsd­irektor Klingholz auch auf Kommunen im wohlhabend­en Südwesten der Republik an, in denen trotz guter Wirtschaft­sdaten zuletzt die rechtspopu­listische AfD mit 16 Prozent gewählt worden sei.

Überhaupt könne nicht gesagt werden, dass Menschen in abgehängte­n Regionen stärker AfD wählten als etwa in wohlhabend­en Gegenden. So hätte Wählern in Rheinland-Pfalz eine „allgemeine Demokratie­unzufriede­nheit“genügt, um ihr Kreuz bei den Rechtspopu­listen zu machen, stellt die Studie fest. Auf der anderen Seite gebe es in Regionen mit schwächere­r Entwicklun­g bei vielen Menschen auch eine „Zufriedenh­eit des Genügsamen“, etwa, weil man zwar wirtschaft­lich nicht top dastehe, dafür aber „viel Platz“habe und „die Miete günstig“sei.

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