Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Geschichte der Bienen
Schon als ich zehn war, hatte ich die Möglichkeiten ausgelotet. Es gab Schulen in anderen Teilen des Landes, eine Tagesreise entfernt, die mich aufnehmen würden, wenn ich fünfzehn war und eigentlich anfangen müsste, auf den Feldern zu arbeiten. Meine Schulleiterin half mir dabei, herauszufinden, wie ich mich bewerben konnte. Sie meinte, ich habe gute Chancen. Aber es kostete Geld. Ich redete mit meinen Eltern, ohne etwas zu erreichen, sie bekamen es mit der Angst zu tun und sahen mich an wie ein fremdes Wesen, das sie nicht verstanden, ja nicht einmal mehr mochten. Auch die Schulleiterin suchte das Gespräch mit ihnen, ich erfuhr nie, was sie eigentlich sagte, nur dass meine Eltern anschließend noch ablehnender waren. Sie hatten kein Geld und waren auch nicht bereit zu sparen.
Ich müsse mich anpassen, meinten sie, ich solle auf dem Boden bleiben und aufhören, kindischen Träumen nachzuhängen. Aber ich konnte es nicht. Denn ich war nun einmal so, wie ich war. Und würde es immer bleiben.
Wei-Wens Lachen ließ mich zusammenzucken. Sein lautes Jauchzen drang aus dem Bad, dessen Akustik die Geräusche verstärkte. „Nein, Papa, nein!“
Er lachte weiter, während Kuan ihn kitzelte und auf seinen zarten Bauch prustete.
Ich stand auf und stellte die Teller in die Spüle, dann ging ich zur Badezimmertür, blieb davor stehen und lauschte. Es war ein Lachen, das ich am liebsten aufgenommen hätte, um es ihm später einmal vorzuspielen, wenn er groß war und eine tiefe Stimme hatte.
Trotzdem konnte es mir kein Lächeln entlocken.
Ich legte die Hand auf die Klinke und schob die Tür auf. Wei-Wen lag auf dem Boden, während Kuan an seinem einen Hosenbein zerrte und zog. Er tat, als würde die Hose gegen ihn ankämpfen und sich nicht ausziehen lassen.
„Beeilst du dich bitte ein bisschen?“, sagte ich zu Kuan.
„Mich beeilen? Wie soll das gehen mit dieser störrischen Hose?“, antwortete Kuan, undWei-Wen giggelte.
„Jetzt stachelst du ihn nur noch mehr auf.“
„Hör mir mal gut zu, liebe Hose, jetzt ist Schluss mit dem Unsinn!“Wei-Wen kringelte sich.
„Wenn du so weitermachst, ist er nachher viel zu aufgekratzt“, sagte ich.„Und wir kriegen ihn kaum noch ins Bett.“
Kuan antwortete nicht und sah weg, doch meine Kritik kam bei ihm an. Ich ging hinaus und schloss die Tür hinter mir. In der Küche erledigte ich rasch noch den restlichen Abwasch.
Dann holte ich die Schreibsachen hervor. Nur noch ein Viertelstündchen, das konnte er verkraften.
William
Oft saß sie hier an meinem Bett, über ein Buch gebeugt, las konzentriert und blätterte langsam um. Meine Tochter Charlotte, die mit ihren vierzehn Jahren sicher Besseres zu tun gehabt hätte, als sich in meine stumme Gesellschaft zu begeben. Trotzdem kam sie immer häufiger. Durch ihre Anwesenheit, ihr ständiges Lesen, konnte ich den Tag von der Nacht unterscheiden.
Thilda hatte heute nicht zu mir hereingeschaut, sie war jetzt seltener bei mir, nicht einmal den Hausarzt schleppte sie noch herbei. Vielleicht ging unser Geld jetzt ernsthaft zur Neige.
Rahm hatte sie nie erwähnt, nicht mit einemWort. Das wäre mir selbst im Tiefschlaf nicht entgangen. Sein Name hätte mich von den Toten erweckt. Wahrscheinlich hatte sie nie eins und eins zusammengezählt, hatte nie verstanden, dass mein letztes Gespräch mit ihm und sein höhnisches Lachen mich hierher getrieben hatten, in dieses Zimmer, dieses Bett.
Er hatte mich damals zu sich gebeten. Ich war mir nicht im Klaren gewesen, warum er mich treffen wollte. Schon seit mehreren Jahren hatte ich nichts mehr von ihm gehört, wir hatten allenfalls ein paar Höflichkeitsfloskeln gewechselt, wenn wir uns ein seltenes Mal in der Stadt begegneten, und dann hatte stets er das Gespräch beendet.
Der Herbst war auf dem Höhepunkt, als ich mich aufmachte, Rahm zu besuchen. Die Blätter strahlten in leuchtendem Gelb, warmem Braun und tiefem Blutrot, ehe derWind sie wegreißen und auf den Boden und in die Fäulnis zwingen würde. Die Bäume waren schwer von Äpfeln, saftigen Pflaumen, triefend süßen Birnen, und in der Erde wuchsen knackige Möhren, Kürbisse, Zwiebeln und duftende Kräuter, die nur darauf warteten, geerntet und verspeist zu werden. Das Leben schien unbeschwert wie im Garten Eden. Meine Füße flogen leicht über den efeubewachsenen Boden, als ich durch ein Waldstück auf Rahms Haus zulief. Ich freute mich darauf, ihn wiederzusehen und in Ruhe mit ihm reden zu können, so wie wir es vor langer Zeit einmal getan hatten, bevor ich Vater so vieler Kinder wurde und das Saatgutgeschäft all meine Zeit in Anspruch nahm.
Er empfing mich in der Tür, trug die Haare immer noch kurzgeschoren, war immer noch schlank, sehnig und muskulös. Er lächelte kurz, sein Lächeln währte nie lang, und bat mich in sein Arbeitszimmer, das mit Pflanzen und Glasbehältern vollstand; in mehreren davon konnte ich Amphibien erahnen, ausgewachsene Frösche und Kröten, die er vermutlich aus Kaulquappen gezüchtet hatte. Diesem Bereich der Naturwissenschaft widmete er seine ganze Aufmerksamkeit. Als ich achtzehn Jahre zuvor nach meinem bestandenen Examen zu ihm gekommen war, hatte ich gehofft, die Insekten erforschen zu können, insbesondere die eusozialen Arten, bei denen die Individuen fast wie ein großer Organismus zusammenlebten – ein Superorganismus. Ihnen galt meine Leidenschaft, den Hautflüglern und Termiten, den Hummeln, Wespen, Bienen und Ameisen. Rahm hatte jedoch gemeint, das müsse noch warten, und bald darauf war auch ich mit diesen Zwischenwesen befasst, mit denen sein Arbeitszimmer bis heute gefüllt war, Kreaturen, die weder Insekten noch Fische oder Säugetiere waren.
Ich war nur sein wissenschaftlicher Mitarbeiter gewesen, deswegen hatte ich mir keinen Protest erlauben können, und es war eine Ehre, für ihn arbeiten zu dürfen, das hatte ich gewusst und war , ihm meine Dankbarkeit zu erweisen, anstatt irgendwelche Forderungen zu stellen.