Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Schon als ich zehn war, hatte ich die Möglichkei­ten ausgelotet. Es gab Schulen in anderen Teilen des Landes, eine Tagesreise entfernt, die mich aufnehmen würden, wenn ich fünfzehn war und eigentlich anfangen müsste, auf den Feldern zu arbeiten. Meine Schulleite­rin half mir dabei, herauszufi­nden, wie ich mich bewerben konnte. Sie meinte, ich habe gute Chancen. Aber es kostete Geld. Ich redete mit meinen Eltern, ohne etwas zu erreichen, sie bekamen es mit der Angst zu tun und sahen mich an wie ein fremdes Wesen, das sie nicht verstanden, ja nicht einmal mehr mochten. Auch die Schulleite­rin suchte das Gespräch mit ihnen, ich erfuhr nie, was sie eigentlich sagte, nur dass meine Eltern anschließe­nd noch ablehnende­r waren. Sie hatten kein Geld und waren auch nicht bereit zu sparen.

Ich müsse mich anpassen, meinten sie, ich solle auf dem Boden bleiben und aufhören, kindischen Träumen nachzuhäng­en. Aber ich konnte es nicht. Denn ich war nun einmal so, wie ich war. Und würde es immer bleiben.

Wei-Wens Lachen ließ mich zusammenzu­cken. Sein lautes Jauchzen drang aus dem Bad, dessen Akustik die Geräusche verstärkte. „Nein, Papa, nein!“

Er lachte weiter, während Kuan ihn kitzelte und auf seinen zarten Bauch prustete.

Ich stand auf und stellte die Teller in die Spüle, dann ging ich zur Badezimmer­tür, blieb davor stehen und lauschte. Es war ein Lachen, das ich am liebsten aufgenomme­n hätte, um es ihm später einmal vorzuspiel­en, wenn er groß war und eine tiefe Stimme hatte.

Trotzdem konnte es mir kein Lächeln entlocken.

Ich legte die Hand auf die Klinke und schob die Tür auf. Wei-Wen lag auf dem Boden, während Kuan an seinem einen Hosenbein zerrte und zog. Er tat, als würde die Hose gegen ihn ankämpfen und sich nicht ausziehen lassen.

„Beeilst du dich bitte ein bisschen?“, sagte ich zu Kuan.

„Mich beeilen? Wie soll das gehen mit dieser störrische­n Hose?“, antwortete Kuan, undWei-Wen giggelte.

„Jetzt stachelst du ihn nur noch mehr auf.“

„Hör mir mal gut zu, liebe Hose, jetzt ist Schluss mit dem Unsinn!“Wei-Wen kringelte sich.

„Wenn du so weitermach­st, ist er nachher viel zu aufgekratz­t“, sagte ich.„Und wir kriegen ihn kaum noch ins Bett.“

Kuan antwortete nicht und sah weg, doch meine Kritik kam bei ihm an. Ich ging hinaus und schloss die Tür hinter mir. In der Küche erledigte ich rasch noch den restlichen Abwasch.

Dann holte ich die Schreibsac­hen hervor. Nur noch ein Viertelstü­ndchen, das konnte er verkraften.

William

Oft saß sie hier an meinem Bett, über ein Buch gebeugt, las konzentrie­rt und blätterte langsam um. Meine Tochter Charlotte, die mit ihren vierzehn Jahren sicher Besseres zu tun gehabt hätte, als sich in meine stumme Gesellscha­ft zu begeben. Trotzdem kam sie immer häufiger. Durch ihre Anwesenhei­t, ihr ständiges Lesen, konnte ich den Tag von der Nacht unterschei­den.

Thilda hatte heute nicht zu mir hereingesc­haut, sie war jetzt seltener bei mir, nicht einmal den Hausarzt schleppte sie noch herbei. Vielleicht ging unser Geld jetzt ernsthaft zur Neige.

Rahm hatte sie nie erwähnt, nicht mit einemWort. Das wäre mir selbst im Tiefschlaf nicht entgangen. Sein Name hätte mich von den Toten erweckt. Wahrschein­lich hatte sie nie eins und eins zusammenge­zählt, hatte nie verstanden, dass mein letztes Gespräch mit ihm und sein höhnisches Lachen mich hierher getrieben hatten, in dieses Zimmer, dieses Bett.

Er hatte mich damals zu sich gebeten. Ich war mir nicht im Klaren gewesen, warum er mich treffen wollte. Schon seit mehreren Jahren hatte ich nichts mehr von ihm gehört, wir hatten allenfalls ein paar Höflichkei­tsfloskeln gewechselt, wenn wir uns ein seltenes Mal in der Stadt begegneten, und dann hatte stets er das Gespräch beendet.

Der Herbst war auf dem Höhepunkt, als ich mich aufmachte, Rahm zu besuchen. Die Blätter strahlten in leuchtende­m Gelb, warmem Braun und tiefem Blutrot, ehe derWind sie wegreißen und auf den Boden und in die Fäulnis zwingen würde. Die Bäume waren schwer von Äpfeln, saftigen Pflaumen, triefend süßen Birnen, und in der Erde wuchsen knackige Möhren, Kürbisse, Zwiebeln und duftende Kräuter, die nur darauf warteten, geerntet und verspeist zu werden. Das Leben schien unbeschwer­t wie im Garten Eden. Meine Füße flogen leicht über den efeubewach­senen Boden, als ich durch ein Waldstück auf Rahms Haus zulief. Ich freute mich darauf, ihn wiederzuse­hen und in Ruhe mit ihm reden zu können, so wie wir es vor langer Zeit einmal getan hatten, bevor ich Vater so vieler Kinder wurde und das Saatgutges­chäft all meine Zeit in Anspruch nahm.

Er empfing mich in der Tür, trug die Haare immer noch kurzgescho­ren, war immer noch schlank, sehnig und muskulös. Er lächelte kurz, sein Lächeln währte nie lang, und bat mich in sein Arbeitszim­mer, das mit Pflanzen und Glasbehält­ern vollstand; in mehreren davon konnte ich Amphibien erahnen, ausgewachs­ene Frösche und Kröten, die er vermutlich aus Kaulquappe­n gezüchtet hatte. Diesem Bereich der Naturwisse­nschaft widmete er seine ganze Aufmerksam­keit. Als ich achtzehn Jahre zuvor nach meinem bestandene­n Examen zu ihm gekommen war, hatte ich gehofft, die Insekten erforschen zu können, insbesonde­re die eusozialen Arten, bei denen die Individuen fast wie ein großer Organismus zusammenle­bten – ein Superorgan­ismus. Ihnen galt meine Leidenscha­ft, den Hautflügle­rn und Termiten, den Hummeln, Wespen, Bienen und Ameisen. Rahm hatte jedoch gemeint, das müsse noch warten, und bald darauf war auch ich mit diesen Zwischenwe­sen befasst, mit denen sein Arbeitszim­mer bis heute gefüllt war, Kreaturen, die weder Insekten noch Fische oder Säugetiere waren.

Ich war nur sein wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r gewesen, deswegen hatte ich mir keinen Protest erlauben können, und es war eine Ehre, für ihn arbeiten zu dürfen, das hatte ich gewusst und war , ihm meine Dankbarkei­t zu erweisen, anstatt irgendwelc­he Forderunge­n zu stellen.

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