Rheinische Post Krefeld Kempen
„Das stimmt nicht, mein Lieber“
Die SPD-Familienministerin und der CDU-Gesundheitsminister haben im Doppelinterview über die Zukunft der Pflege, über die Halbzeitbilanz der großen Koalition und über den heutigen Wert von Volksparteien diskutiert.
willigt, so dass Leute eingestellt werden können?
SPAHN Wir kämpfen dafür, dass möglichst schnell möglichst viele neue Pflegekräfte eingestellt werden. Inzwischen sind fast 3000 Stellen beantragt. Das ist auf einem angespannten Arbeitsmarkt wie der Pflege schon ein kleiner Erfolg. Doch Anträge alleine reichen nicht. Sie müssen auch bewilligt werden – unbürokratisch und schnell. Um das zu gewährleisten, sprechen wir mit Kassen und Arbeitgebern.
GIFFEY Wir haben in allen Bereichen der Pflege nicht genug Leute. Beispielsweise gibt es für 100 offene Stellen in der Altenpflege nur 27 Bewerber. Wir müssen also mehr Menschen gewinnen, die diesen Beruf machen. Deshalb haben wir im Januar die Ausbildungsoffensive Pflege gestartet. Bis 2023 wollen wir zehn Prozent mehr Ausbildungsplätze und zehn Prozent mehr Auszubildende. Das ist ein großer Sprung, bei dem viele Partner mithelfen. Es wird zum 1. Januar 2020 auch endlich das Schulgeld in der Pflege abgeschafft. Wir brauchen eine attraktive Ausbildungsvergütung mit Tarifbindung für alle, bei der dann schon im ersten Ausbildungsjahr 1100 Euro im Monat drin sind. Mit der neuen generalistischen Pflegeausbildung kann man künftig in die Kranken-, in die Alten- oder in die Kinderkrankenpflege gehen. Das werden wir auch mit einer großen Kampagne bewerben.Wir bauen dafür ein 40-köpfiges Beratungsteam auf, das bundesweit gezielt in Pflegeschulen und Pflegeeinrichtungen berät und informiert. Und wir werden auch auf Berufsmessen präsent sein.
Wie viele Pflegekräfte fehlen aktuell in Deutschland?
SPAHN Das ist schwer zu schätzen. Aber wenn alle Stellen besetzt würden, die finanziert werden könnten, sind es wahrscheinlich deutlich mehr als 50.000. Klar ist: Der Bedarf an Pflegekräften ist riesig. Bei den Pflegeheimen und Pflegediensten deutlich mehr als bei Krankenhäusern. Und klar ist auch, dass wir das nur schaffen, wenn wir alle Register ziehen: ausbilden, umschulen, besser bezahlen – und Pflegekräfte aus dem Ausland anwerben.
GIFFEY Wir beide ziehen da mit Arbeitsminister Hubertus Heil an einem Strang. Die Aufgabe ist so groß, dass die drei zuständigen Minister eng zusammenarbeiten müssen. Und der Fachkräftemangel in den sozialen Berufen ist vor allem auch ein frauenpolitisches Thema. In diesem Bereich arbeiten 80 Prozent Frauen.
In der Regel sind es Frauen, die private häusliche Pflege leisten. Die stehen aber immer weniger zur Verfügung. Wie wollen Sie dieses Standbein der Pflege angesichts der stark gestiegenen Erwerbsarbeit von Frauen sichern?
GIFFEY Die pflegenden Angehörigen sind zu rund 70 Prozent Frauen. Es geht deshalb nicht allein um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sondern auch von Pflege und Beruf. Pflegende Angehörige müssen oft finanzielle Einbußen hinnehmen. Das zinslose Darlehen, das man heute schon für die Pflege von Angehörigen aufnehmen kann, wird aber nicht so gut angenommen. In einer so schwierigen Situation scheuen vermutlich viele davor zurück, auch noch ein finanzielles Risiko einzugehen.
Was ist die Alternative für pflegende Angehörige?
GIFFEY Bei uns im Bundesseniorenministerium denken wir über eine Art Lohnersatzleistung nach: ein Familienpflegegeld analog zum Elterngeld, das über einen gewissen Zeitraum gezahlt wird. Das ist zunächst mal eine Idee.Wir haben dafür noch keine Finanzierung und das ist sicherlich auch nichts für diese Legislatur, aber wir müssen uns mit dieser gesellschaftlichen Zukunftsaufgabe auseinandersetzen und darüber diskutieren, wie wir pflegende Angehörige besser und spürbar unterstützen. Bis 2050 wird es Prognosen zufolge 4,5 Millionen Pflegebedürftige geben. Ein Familienpflegegeld würde das Pflegesystem auch insgesamt entlasten. Diejenigen, die zu Hause von Angehörigen betreut werden, müssen nicht in Heimen und nur zum Teil von ambulanten Diensten versorgt werden.
Herr Spahn, brauchen wir ein Pflegegeld?
SPAHN Wir haben in den vergangenen Jahren sehr viel für pflegende Angehörige getan: Tagespflege, Entlastungsleistungen, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, Pflegedarlehen und Pflegeunterstützungsgeld eingeführt. Die Ausgaben der Pflegeversicherung haben sich in den letzten zehn Jahren auch deswegen fast verdoppelt. Die Pflege bleibt aber eine familiäre Aufgabe, bei der die Gesellschaft unterstützt. Pflegegeld wäre eine zusätzliche milliardenschwere Leistung. Das ist das Problem der Sozialdemokratie: Die Grundrente ist noch nicht finanziert, keiner weiß, wo die nötigen Milliarden herkommen sollen – und doch werden schon immer weitere Versprechungen ins Schaufenster gelegt, die keiner erfüllen kann. Die Enttäuschung ist also programmiert. Wir werden uns unseren Sozialstaat in fünf bis zehn Jahren nur dann leisten können, wenn wir noch Exportweltmeister sind und die Automobilindustrie gut läuft. Deshalb halte ich wenig davon,Vorschläge zu machen, die aktuell kaum finanzierbar sind. Ich habe allergrößten Respekt vor pflegenden Angehörigen und ihrer Leistung. Sie verdienen all unsere Anerkennung und Unterstützung. Gerade deshalb sollten wir keine Hoffnungen wecken, die wir nicht erfüllen können.
Vielleicht muss die Regierung der Automobilindustrie einfach mehr Druck machen, dass sie weniger betrügt und dafür innovativer ist.
GIFFEY Es geht jetzt gar nicht um die Automobilindustrie, sondern darum, was einen modernen begleitenden und aktivierenden Sozialstaat ausmacht.
SPAHN Lass uns doch erst einmal das umsetzen, was wir angestoßen haben: Ganztagsbetreuung für Grundschüler oder die Grundrente und nicht ständig neue Sozialleistungen erfinden.
GIFFEY Wir wollen und können ein Familienpflegegeld nicht sofort einführen. Es geht um Zukunftsperspektiven für die nächste Dekade.
SPD und CDU haben zu kämpfen. Sind die Volksparteien aus der Mode gekommen? Wollen die Menschen kein Warenhaus mehr, in dem man von Herrensocken bis zum Tortenheber alles findet?
SPAHN Wir erleben eine zunehmende Unerbittlichkeit in Politik und Gesellschaft. Sei es in der Debatte um die Klimapolitik, in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rändern, im Ringen innerhalb der CDU zwischen der Werte-Union und der Union der Mitte – das alles verläuft nach dem gleichen Motto: Wer meine Meinung nicht teilt, muss bekämpft werden. Andere Meinungen werden nicht geduldet. Das Bedürfnis nach Zusammenhalt und gemeinsamenWerten vieler Menschen ist aber riesengroß. Der politische Diskurs widerspricht zunehmend den Erwartungen der Gesellschaft. Ich bin davon überzeugt: Die Bürger suchen Parteien und Politiker, die das Land zusammen halten, nicht welche, die das Land spalten.
GIFFEY Aus der Mode gekommen ist der Kompromiss. Die politische Einigung zwischen zwei völlig verschiedenen Positionen wird wenig geschätzt. Aber Politik ist doch immer die Kunst des Möglichmachens. Wenn man zusammenarbeitet, werden einem die eigenen Wünsche nicht zu 100 Prozent erfüllt.
SPAHN Das ist in der Familie ja schon nicht so.
GIFFEY Immer da, wo Menschen zusammenkommen, muss man Kompromisse machen, und sei es beim gemeinsamen Urlaubsziel. Der Kompromiss wird häufig als Niederlage ausgelegt statt anzuerkennen, dass ein Weg gefunden wurde, mit dem verschiedene Seiten leben können. Für mich ist eine moderne Volkspartei die, die unterschiedliche Interessen zusammenbringt. Es ist ja nicht so, wie Du sagst, dass die SPD immer nur über das Soziale redet.
SPAHN Macht sie aber leider. GIFFEY Das stimmt nicht, mein Lieber. Es ist sehr wichtig, dass wir eine Balance finden.
SPAHN Vielleicht musst Du doch noch für den Parteivorsitz kandidieren.
GIFFEY Nun hör’ doch mal auf (lacht). Es muss einen Ausgleich der Interessen geben zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Fragen. Das macht eine Volkspartei aus. Wenn man sich nur um ein Thema kümmert, kommt man aus dem Gleichgewicht. Deshalb braucht es die Volksparteien, die ausgleichen können – für eine gute gesamtdeutsche Entwicklung. Deswegen braucht es eine starke Sozialdemokratie.
SPAHN Ja, und es braucht zwei große Volksparteien, die sich unterscheiden und imWettbewerb zueinander stehen.Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass es zwischen SPD und Union keinen Unterschied mehr gibt, suchen sie im Zweifel das Extreme. Das ist auch das Schwierige für eine Koalition wie unsere: gut gemeinsam zu regieren und gleichzeitig den Unterschied herauszuarbeiten.
GIFFEY Ich denke, das haben wir beide heute ganz gut hinbekommen.
Der rechtsaußen angesiedelte Ex-Verfassungsschutzchef HansGeorg Maaßen hat also auch selbstverständlich einen Platz in der CDU?
SPAHN Egal, ob jemand unter den Vorsitzenden Konrad Adenauer, Helmut Kohl oder Angela Merkel in die CDU eingetreten ist, alle haben auch heute und morgen einen Platz in der CDU. Das ist für mich Volkspartei.