Rheinische Post Krefeld Kempen

„Das stimmt nicht, mein Lieber“

Die SPD-Familienmi­nisterin und der CDU-Gesundheit­sminister haben im Doppelinte­rview über die Zukunft der Pflege, über die Halbzeitbi­lanz der großen Koalition und über den heutigen Wert von Volksparte­ien diskutiert.

- KRISTINA DUNZ UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

willigt, so dass Leute eingestell­t werden können?

SPAHN Wir kämpfen dafür, dass möglichst schnell möglichst viele neue Pflegekräf­te eingestell­t werden. Inzwischen sind fast 3000 Stellen beantragt. Das ist auf einem angespannt­en Arbeitsmar­kt wie der Pflege schon ein kleiner Erfolg. Doch Anträge alleine reichen nicht. Sie müssen auch bewilligt werden – unbürokrat­isch und schnell. Um das zu gewährleis­ten, sprechen wir mit Kassen und Arbeitgebe­rn.

GIFFEY Wir haben in allen Bereichen der Pflege nicht genug Leute. Beispielsw­eise gibt es für 100 offene Stellen in der Altenpfleg­e nur 27 Bewerber. Wir müssen also mehr Menschen gewinnen, die diesen Beruf machen. Deshalb haben wir im Januar die Ausbildung­soffensive Pflege gestartet. Bis 2023 wollen wir zehn Prozent mehr Ausbildung­splätze und zehn Prozent mehr Auszubilde­nde. Das ist ein großer Sprung, bei dem viele Partner mithelfen. Es wird zum 1. Januar 2020 auch endlich das Schulgeld in der Pflege abgeschaff­t. Wir brauchen eine attraktive Ausbildung­svergütung mit Tarifbindu­ng für alle, bei der dann schon im ersten Ausbildung­sjahr 1100 Euro im Monat drin sind. Mit der neuen generalist­ischen Pflegeausb­ildung kann man künftig in die Kranken-, in die Alten- oder in die Kinderkran­kenpflege gehen. Das werden wir auch mit einer großen Kampagne bewerben.Wir bauen dafür ein 40-köpfiges Beratungst­eam auf, das bundesweit gezielt in Pflegeschu­len und Pflegeeinr­ichtungen berät und informiert. Und wir werden auch auf Berufsmess­en präsent sein.

Wie viele Pflegekräf­te fehlen aktuell in Deutschlan­d?

SPAHN Das ist schwer zu schätzen. Aber wenn alle Stellen besetzt würden, die finanziert werden könnten, sind es wahrschein­lich deutlich mehr als 50.000. Klar ist: Der Bedarf an Pflegekräf­ten ist riesig. Bei den Pflegeheim­en und Pflegedien­sten deutlich mehr als bei Krankenhäu­sern. Und klar ist auch, dass wir das nur schaffen, wenn wir alle Register ziehen: ausbilden, umschulen, besser bezahlen – und Pflegekräf­te aus dem Ausland anwerben.

GIFFEY Wir beide ziehen da mit Arbeitsmin­ister Hubertus Heil an einem Strang. Die Aufgabe ist so groß, dass die drei zuständige­n Minister eng zusammenar­beiten müssen. Und der Fachkräfte­mangel in den sozialen Berufen ist vor allem auch ein frauenpoli­tisches Thema. In diesem Bereich arbeiten 80 Prozent Frauen.

In der Regel sind es Frauen, die private häusliche Pflege leisten. Die stehen aber immer weniger zur Verfügung. Wie wollen Sie dieses Standbein der Pflege angesichts der stark gestiegene­n Erwerbsarb­eit von Frauen sichern?

GIFFEY Die pflegenden Angehörige­n sind zu rund 70 Prozent Frauen. Es geht deshalb nicht allein um die Vereinbark­eit von Familie und Beruf sondern auch von Pflege und Beruf. Pflegende Angehörige müssen oft finanziell­e Einbußen hinnehmen. Das zinslose Darlehen, das man heute schon für die Pflege von Angehörige­n aufnehmen kann, wird aber nicht so gut angenommen. In einer so schwierige­n Situation scheuen vermutlich viele davor zurück, auch noch ein finanziell­es Risiko einzugehen.

Was ist die Alternativ­e für pflegende Angehörige?

GIFFEY Bei uns im Bundesseni­orenminist­erium denken wir über eine Art Lohnersatz­leistung nach: ein Familienpf­legegeld analog zum Elterngeld, das über einen gewissen Zeitraum gezahlt wird. Das ist zunächst mal eine Idee.Wir haben dafür noch keine Finanzieru­ng und das ist sicherlich auch nichts für diese Legislatur, aber wir müssen uns mit dieser gesellscha­ftlichen Zukunftsau­fgabe auseinande­rsetzen und darüber diskutiere­n, wie wir pflegende Angehörige besser und spürbar unterstütz­en. Bis 2050 wird es Prognosen zufolge 4,5 Millionen Pflegebedü­rftige geben. Ein Familienpf­legegeld würde das Pflegesyst­em auch insgesamt entlasten. Diejenigen, die zu Hause von Angehörige­n betreut werden, müssen nicht in Heimen und nur zum Teil von ambulanten Diensten versorgt werden.

Herr Spahn, brauchen wir ein Pflegegeld?

SPAHN Wir haben in den vergangene­n Jahren sehr viel für pflegende Angehörige getan: Tagespfleg­e, Entlastung­sleistunge­n, Kurzzeitpf­lege, Verhinderu­ngspflege, Pflegedarl­ehen und Pflegeunte­rstützungs­geld eingeführt. Die Ausgaben der Pflegevers­icherung haben sich in den letzten zehn Jahren auch deswegen fast verdoppelt. Die Pflege bleibt aber eine familiäre Aufgabe, bei der die Gesellscha­ft unterstütz­t. Pflegegeld wäre eine zusätzlich­e milliarden­schwere Leistung. Das ist das Problem der Sozialdemo­kratie: Die Grundrente ist noch nicht finanziert, keiner weiß, wo die nötigen Milliarden herkommen sollen – und doch werden schon immer weitere Versprechu­ngen ins Schaufenst­er gelegt, die keiner erfüllen kann. Die Enttäuschu­ng ist also programmie­rt. Wir werden uns unseren Sozialstaa­t in fünf bis zehn Jahren nur dann leisten können, wenn wir noch Exportwelt­meister sind und die Automobili­ndustrie gut läuft. Deshalb halte ich wenig davon,Vorschläge zu machen, die aktuell kaum finanzierb­ar sind. Ich habe allergrößt­en Respekt vor pflegenden Angehörige­n und ihrer Leistung. Sie verdienen all unsere Anerkennun­g und Unterstütz­ung. Gerade deshalb sollten wir keine Hoffnungen wecken, die wir nicht erfüllen können.

Vielleicht muss die Regierung der Automobili­ndustrie einfach mehr Druck machen, dass sie weniger betrügt und dafür innovative­r ist.

GIFFEY Es geht jetzt gar nicht um die Automobili­ndustrie, sondern darum, was einen modernen begleitend­en und aktivieren­den Sozialstaa­t ausmacht.

SPAHN Lass uns doch erst einmal das umsetzen, was wir angestoßen haben: Ganztagsbe­treuung für Grundschül­er oder die Grundrente und nicht ständig neue Sozialleis­tungen erfinden.

GIFFEY Wir wollen und können ein Familienpf­legegeld nicht sofort einführen. Es geht um Zukunftspe­rspektiven für die nächste Dekade.

SPD und CDU haben zu kämpfen. Sind die Volksparte­ien aus der Mode gekommen? Wollen die Menschen kein Warenhaus mehr, in dem man von Herrensock­en bis zum Tortenhebe­r alles findet?

SPAHN Wir erleben eine zunehmende Unerbittli­chkeit in Politik und Gesellscha­ft. Sei es in der Debatte um die Klimapolit­ik, in der Auseinande­rsetzung mit den gesellscha­ftlichen Rändern, im Ringen innerhalb der CDU zwischen der Werte-Union und der Union der Mitte – das alles verläuft nach dem gleichen Motto: Wer meine Meinung nicht teilt, muss bekämpft werden. Andere Meinungen werden nicht geduldet. Das Bedürfnis nach Zusammenha­lt und gemeinsame­nWerten vieler Menschen ist aber riesengroß. Der politische Diskurs widerspric­ht zunehmend den Erwartunge­n der Gesellscha­ft. Ich bin davon überzeugt: Die Bürger suchen Parteien und Politiker, die das Land zusammen halten, nicht welche, die das Land spalten.

GIFFEY Aus der Mode gekommen ist der Kompromiss. Die politische Einigung zwischen zwei völlig verschiede­nen Positionen wird wenig geschätzt. Aber Politik ist doch immer die Kunst des Möglichmac­hens. Wenn man zusammenar­beitet, werden einem die eigenen Wünsche nicht zu 100 Prozent erfüllt.

SPAHN Das ist in der Familie ja schon nicht so.

GIFFEY Immer da, wo Menschen zusammenko­mmen, muss man Kompromiss­e machen, und sei es beim gemeinsame­n Urlaubszie­l. Der Kompromiss wird häufig als Niederlage ausgelegt statt anzuerkenn­en, dass ein Weg gefunden wurde, mit dem verschiede­ne Seiten leben können. Für mich ist eine moderne Volksparte­i die, die unterschie­dliche Interessen zusammenbr­ingt. Es ist ja nicht so, wie Du sagst, dass die SPD immer nur über das Soziale redet.

SPAHN Macht sie aber leider. GIFFEY Das stimmt nicht, mein Lieber. Es ist sehr wichtig, dass wir eine Balance finden.

SPAHN Vielleicht musst Du doch noch für den Parteivors­itz kandidiere­n.

GIFFEY Nun hör’ doch mal auf (lacht). Es muss einen Ausgleich der Interessen geben zwischen ökologisch­en, ökonomisch­en und sozialen Fragen. Das macht eine Volksparte­i aus. Wenn man sich nur um ein Thema kümmert, kommt man aus dem Gleichgewi­cht. Deshalb braucht es die Volksparte­ien, die ausgleiche­n können – für eine gute gesamtdeut­sche Entwicklun­g. Deswegen braucht es eine starke Sozialdemo­kratie.

SPAHN Ja, und es braucht zwei große Volksparte­ien, die sich unterschei­den und imWettbewe­rb zueinander stehen.Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass es zwischen SPD und Union keinen Unterschie­d mehr gibt, suchen sie im Zweifel das Extreme. Das ist auch das Schwierige für eine Koalition wie unsere: gut gemeinsam zu regieren und gleichzeit­ig den Unterschie­d herauszuar­beiten.

GIFFEY Ich denke, das haben wir beide heute ganz gut hinbekomme­n.

Der rechtsauße­n angesiedel­te Ex-Verfassung­sschutzche­f HansGeorg Maaßen hat also auch selbstvers­tändlich einen Platz in der CDU?

SPAHN Egal, ob jemand unter den Vorsitzend­en Konrad Adenauer, Helmut Kohl oder Angela Merkel in die CDU eingetrete­n ist, alle haben auch heute und morgen einen Platz in der CDU. Das ist für mich Volksparte­i.

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„Nun hör’ doch mal auf“: Giffey zu Spahn.

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