Rheinische Post Krefeld Kempen
Notstand in Tönisvorst
Binnen weniger Wochen haben 26 NRW-Städte den „Klimanotstand“ausgerufen. Ernster Notruf oder alberne Modewelle?
TÖNISVORST Unter Kommunalpolitikern ist es das Thema. Die einen tun alles als Modewelle ab: folgenlos, kurzfristig – und irgendwie banal. Die anderen glauben, dass es wirklich ums Überleben geht. 26 Städte und Kreise in NRW haben innerhalb weniger Wochen den „Klimanotstand“ausgerufen. Den Anfang machte im Mai das beschauliche Tönisvorst am Niederrhein, aber schon bald folgten größere Städte wie Düsseldorf, Bonn oder Münster. Was steckt dahinter?
Ein„Notstand“ermächtigt Behörden zu verschärften Maßnahmen, etwa um die Bevölkerung vor Naturkatastrophen, Kriegen oder grassierenden Seuchen zu schützen. Dieser Begriff steht in eigentümlichem Widerspruch zu der Unverbindlichkeit der kommunalen Notstands-Erklärungen. Denn diese verändern erst einmal gar nichts. Sie ermächtigen auch niemanden zu etwas. Oft motiviert von der Fridays-for-Future-Bewegung und vorbereitet durch soziale Netzwerke im Internet beschließen die Stadträte und Kreistage diesen Notstand vor allem, um ein Signal zu setzen. Sie bekennen sich zu der Überzeugung, dass dem Klimaschutz größtmögliche Priorität eingeräumt werden muss, weil der Bevölkerung sonst eine Katastrophe droht.
So eine Resolution kostet ja auch erstmal nichts. „Welche Maßnahmen unser Klimanotstands-Beschluss haben wird und wie viel Geld wir dafür im Haushalt einplanen müssen, wird sich noch zeigen“, räumt der Tönisvorster Bürgermeister Thomas Goßen (CDU) ein. Bis hier klingt das alles nach Symbolpolitik und erinnert an die 80er Jahre, als sich deutsche Kommunen reihenweise mit viel Pathos und wenig Relevanz zur„atomwaffenfreien Zone“erklärt haben.„Der Beschluss alleine tut’s nicht“, sagt selbst Goßen, „da muss jetzt Fleisch an den Knochen.“
Immerhin gibt es dieses Fleisch schon als Entwurf. Einen ZehnPunkte-Plan will Goßens Stadtverwaltung nach der Sommerpause „in die Diskussion geben“, wie er es nennt. Einer der Punkte: Noch verteilen sich die 132 Mitarbeiter des Rathauses auf sechs Standorte. Drei davon – das ist schon beschlossen – sollen zusammengelegt werden. „Und dann schauen wir mal, was unser Klimanotstand für den Neubau bedeutet“, sagt Goßen: „Photovoltaik aufs Dach? Eigene Heizung oder Passivhaus? Kommen wir ohne Klimaanlage aus?“ Ein weiterer Punkt in der Diskussion soll der Bebauungsplan werden: Wird Tönisvorst in künftigenWohngebieten eine Dachbegrünung vorschreiben? Steingärten verbieten, damit die Bienen mehr Lebensräume bekommen? Wird es in Tönisvorst gar autofreie Wohnviertel geben?
Goßen formuliert all diese Vorschläge als Fragen. So, als hätten die Antworten nicht viel mit ihm zu tun. Vielleicht muss man so Kommunalpolitik machen. Vielleicht müssen die Bürger das Gefühl haben, den Wandel selbst zu steuern, weil jede Klimaschutzmaßnahme auch mächtige Gegner hat. „Das Ganze wird auch Geld kosten, das wir dann für andere Projekte nicht mehr ausgeben können“, sagt der Bürgermeister voraus.
Wolkige Ankündigungen, eine dramatische Resolution, aber ein Vierteljahr nach dem Tönisvorster Klima-Notruf noch keine einzige neue Maßnahme, die man besichtigen könnte. Trotzdem meint die Kleinstadt es ernst mit dem Klimaschutz. Das beweist sie schon seit Jahrzehnten – auch ohne Klimanotstand.
So haben die rund 30.000 Tönisvorster einen Millionenbetrag gestemmt, um große Teile der Straßen- und Schulbeleuchtung auf energiesparendes LED-Licht umzurüsten. Ehrenamtliche Helfer lenken seit fast 20 Jahren einen Bürgerbus, auch, um die Stadt vom Autoverkehr zu entlasten. Eine halbe Million Passagiere haben sie seit der Jahrtausendwende schon transportiert – zum Pauschalpreis von aktuell 80 Cent pro Fahrt. Die Stadtverwaltung hat sich um E-Bikes für die Mitarbeiter gekümmert, die sie für kürzere Botenfahrten oder Baustellenbesichtigungen nutzen können. 770.000 Euro flossen zuletzt in eine großzügig gestaltete Grünfläche am Stadtrand, wo nun ökologisch wertvolle Hölzer wie Obstbäume stehen. Und hinter dem schrecklichen Verwaltungswort „nutzerorientiertes Energieprojekt“steckte auch eine schöne Idee: Die Schüler des größten Schulzentrums am Ort sollten Lichtschalter, Wasser- und Heizungsregler einfach möglichst oft in die andere Richtung drehen – mit messbaren Einsparungen bei Strom, Wärme und Wasser im teilweise zweistelligen Prozentbereich.
Nichts von alledem ist spektakulär. Aber ihre Umweltschutz-Historie zeigt: Es gab schon unglaubwürdigere Resolutionen als den Tönisvorster Klimanotstand. Offenbar meinen Goßen und seine gut 30.000 Bürger es ernst.