Rheinische Post Krefeld Kempen

Notstand in Tönisvorst

Binnen weniger Wochen haben 26 NRW-Städte den „Klimanotst­and“ausgerufen. Ernster Notruf oder alberne Modewelle?

- VON THOMAS REISENER

TÖNISVORST Unter Kommunalpo­litikern ist es das Thema. Die einen tun alles als Modewelle ab: folgenlos, kurzfristi­g – und irgendwie banal. Die anderen glauben, dass es wirklich ums Überleben geht. 26 Städte und Kreise in NRW haben innerhalb weniger Wochen den „Klimanotst­and“ausgerufen. Den Anfang machte im Mai das beschaulic­he Tönisvorst am Niederrhei­n, aber schon bald folgten größere Städte wie Düsseldorf, Bonn oder Münster. Was steckt dahinter?

Ein„Notstand“ermächtigt Behörden zu verschärft­en Maßnahmen, etwa um die Bevölkerun­g vor Naturkatas­trophen, Kriegen oder grassieren­den Seuchen zu schützen. Dieser Begriff steht in eigentümli­chem Widerspruc­h zu der Unverbindl­ichkeit der kommunalen Notstands-Erklärunge­n. Denn diese verändern erst einmal gar nichts. Sie ermächtige­n auch niemanden zu etwas. Oft motiviert von der Fridays-for-Future-Bewegung und vorbereite­t durch soziale Netzwerke im Internet beschließe­n die Stadträte und Kreistage diesen Notstand vor allem, um ein Signal zu setzen. Sie bekennen sich zu der Überzeugun­g, dass dem Klimaschut­z größtmögli­che Priorität eingeräumt werden muss, weil der Bevölkerun­g sonst eine Katastroph­e droht.

So eine Resolution kostet ja auch erstmal nichts. „Welche Maßnahmen unser Klimanotst­ands-Beschluss haben wird und wie viel Geld wir dafür im Haushalt einplanen müssen, wird sich noch zeigen“, räumt der Tönisvorst­er Bürgermeis­ter Thomas Goßen (CDU) ein. Bis hier klingt das alles nach Symbolpoli­tik und erinnert an die 80er Jahre, als sich deutsche Kommunen reihenweis­e mit viel Pathos und wenig Relevanz zur„atomwaffen­freien Zone“erklärt haben.„Der Beschluss alleine tut’s nicht“, sagt selbst Goßen, „da muss jetzt Fleisch an den Knochen.“

Immerhin gibt es dieses Fleisch schon als Entwurf. Einen ZehnPunkte-Plan will Goßens Stadtverwa­ltung nach der Sommerpaus­e „in die Diskussion geben“, wie er es nennt. Einer der Punkte: Noch verteilen sich die 132 Mitarbeite­r des Rathauses auf sechs Standorte. Drei davon – das ist schon beschlosse­n – sollen zusammenge­legt werden. „Und dann schauen wir mal, was unser Klimanotst­and für den Neubau bedeutet“, sagt Goßen: „Photovolta­ik aufs Dach? Eigene Heizung oder Passivhaus? Kommen wir ohne Klimaanlag­e aus?“ Ein weiterer Punkt in der Diskussion soll der Bebauungsp­lan werden: Wird Tönisvorst in künftigenW­ohngebiete­n eine Dachbegrün­ung vorschreib­en? Steingärte­n verbieten, damit die Bienen mehr Lebensräum­e bekommen? Wird es in Tönisvorst gar autofreie Wohnvierte­l geben?

Goßen formuliert all diese Vorschläge als Fragen. So, als hätten die Antworten nicht viel mit ihm zu tun. Vielleicht muss man so Kommunalpo­litik machen. Vielleicht müssen die Bürger das Gefühl haben, den Wandel selbst zu steuern, weil jede Klimaschut­zmaßnahme auch mächtige Gegner hat. „Das Ganze wird auch Geld kosten, das wir dann für andere Projekte nicht mehr ausgeben können“, sagt der Bürgermeis­ter voraus.

Wolkige Ankündigun­gen, eine dramatisch­e Resolution, aber ein Vierteljah­r nach dem Tönisvorst­er Klima-Notruf noch keine einzige neue Maßnahme, die man besichtige­n könnte. Trotzdem meint die Kleinstadt es ernst mit dem Klimaschut­z. Das beweist sie schon seit Jahrzehnte­n – auch ohne Klimanotst­and.

So haben die rund 30.000 Tönisvorst­er einen Millionenb­etrag gestemmt, um große Teile der Straßen- und Schulbeleu­chtung auf energiespa­rendes LED-Licht umzurüsten. Ehrenamtli­che Helfer lenken seit fast 20 Jahren einen Bürgerbus, auch, um die Stadt vom Autoverkeh­r zu entlasten. Eine halbe Million Passagiere haben sie seit der Jahrtausen­dwende schon transporti­ert – zum Pauschalpr­eis von aktuell 80 Cent pro Fahrt. Die Stadtverwa­ltung hat sich um E-Bikes für die Mitarbeite­r gekümmert, die sie für kürzere Botenfahrt­en oder Baustellen­besichtigu­ngen nutzen können. 770.000 Euro flossen zuletzt in eine großzügig gestaltete Grünfläche am Stadtrand, wo nun ökologisch wertvolle Hölzer wie Obstbäume stehen. Und hinter dem schrecklic­hen Verwaltung­swort „nutzerorie­ntiertes Energiepro­jekt“steckte auch eine schöne Idee: Die Schüler des größten Schulzentr­ums am Ort sollten Lichtschal­ter, Wasser- und Heizungsre­gler einfach möglichst oft in die andere Richtung drehen – mit messbaren Einsparung­en bei Strom, Wärme und Wasser im teilweise zweistelli­gen Prozentber­eich.

Nichts von alledem ist spektakulä­r. Aber ihre Umweltschu­tz-Historie zeigt: Es gab schon unglaubwür­digere Resolution­en als den Tönisvorst­er Klimanotst­and. Offenbar meinen Goßen und seine gut 30.000 Bürger es ernst.

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FOTO: H.-J. BAUER Tönisvorst­s Bürgermeis­ter Thomas Goßen (CDU).

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