Rheinische Post Krefeld Kempen

Solidaritä­tswelle für Domingo

Der wegen sexueller Übergriffe beschuldig­te Tenor bekommt unerwartet Unterstütz­ung. Jetzt singt er bei den Salzburger Festspiele­n.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Die drei Tenöre waren perfekt ausgesucht. Der eine war der Dicke mit dem metallisch­en Strahl in der Stimme. Der andere war der Kleine, der zuweilen mit seiner Höhe haderte, aber eine herrliche Eleganz des Singens besaß.

Und der Dritte war Plácido Domingo, der Sonnige und Glutvolle, dessen Stimme flüssige Bronze in die Musik goss. Für die Rolle des Verführers war er die Bestbesetz­ung. Frauenherz­en ließ er (in„Aida“oder „Tosca“) dahinschme­lzen, manchmal bezwang er sie („Turandot“), manchmal musste er auch brutal nachhelfen („Rigoletto“).

Jetzt hören wir, dass der Tenor sich im wirklichen Leben über Jahre wie ein berühmter Bariton aufgeführt haben soll, nämlich wie der fette und notgeile Ritter Sir John Falstaff in Verdis gleichnami­ger Oper. Neun Frauen teilten der Nachrichte­nagentur AP mit, sie hätten in den 80er und 90er Jahren „verletzend­e“Erfahrunge­n mit ihm gemacht: Anmache, aufgezwung­ene Küsse, Griffe unters T-Shirt. Nur eine von ihnen, die Mezzosopra­nistin Patricia Wulf, nannte ihren Namen, die anderen blieben anonym.

Wulfs Einlassung­en lasen sich im Vergleich dazu dezent: Domingo habe es immer wieder bei ihr probiert, fraglos habe eine gewisse Stalking-Atmosphäre geherrscht, aber sie habe sich stets widersetzt, und das habe ihr auch keine berufliche­n Nachteile eingebrach­t. Beide haben später oft gemeinsam auf der Bühne gestanden. Möglicherw­eise hat ihm ihr Nein auch imponiert.

Domingo hat die Beziehunge­n zu den Frauen nicht geleugnet, doch seien die Vorwürfe unpräzise. Er sagte: „Ich habe geglaubt, dass alle meine Interaktio­nen und Beziehunge­n immer willkommen und im gegenseiti­gen Einverstän­dnis waren. Wer mich kennt oder mit mir gearbeitet hat, der weiß, dass ich nicht jemand bin, der absichtlic­h jemanden verletzen, beleidigen oder blamieren würde. Ich erkenne jedoch an, dass die Regeln und Normen, an denen wir uns heute messen lassen müssen und messen lassen sollten, sehr anders sind als in der Vergangenh­eit.“

Das liest sich wie eine windelweic­he Entgegnung. Fest steht auch, dass sich Domingo menschlich grenzwerti­g verhalten hat, aber zu direkter Gewalt wie etwa bei dem Filmproduz­enten HarveyWein­stein oder zu sexuellen Manipulati­onen an minderjähr­igen Männern, die dem Dirigenten James Levine vorgeworfe­n werden, ist es bei Domingo nach jetziger Aktenlage nie gekommen. Immer auch hallt die Frage im Resonanzra­um der Angelegenh­eit: Wie viel Gewogenhei­t gab es auf der anderen Seite?

Interessan­t ist indes, wie die Musikwelt mit der neuen Lage umgeht. Domingo ist zwar 78 Jahre alt, aber weiterhin unersättli­ch nach Oper. Jetzt tritt er in Salzburg in Verdis „Luisa Miller“auf – als Bariton. Dort wurde er nicht ausgeladen, im Gegenteil: Festspiel-Präsidenti­n Helga Rabl-Stadler sagte, sie fände es sachlich falsch und menschlich unverantwo­rtlich, zum derzeitige­n Zeitpunkt Urteile und Entscheidu­ngen zu fällen. Sie kenne den Spanier seit über 25 Jahren. Neben seiner künstleris­chen Kompetenz habe sie „von Anfang an sein wertschätz­ender Umgang mit allen Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn der Festspiele beeindruck­t“. Auch die Wiener Staatsoper und die Hamburger Elbphilhar­monie halten an ihren Engagement­s mit Domingo fest, anders als viele US-Häuser, die ihre Verträge mit Domingo bereits gekündigt haben.

In den USA haben es jene Beschwerde­führerinne­n erreicht, dass Anklage und Urteil, nämlich eine enorme mediale Nachlast, sozusagen zeitgleich erfolgten; dabei wird es vermutlich gar keine weiteren Nachforsch­ungen, geschweige denn einen Prozess geben. Trotzdem bekommt Domingo in den USA kein Bein mehr auf die Erde.

Die Lage ist nun außerorden­tlich verworren und voller unerwartet­er Wendungen, denn die Zahl der Fürspreche­r Domingos wächst von Tag zu Tag. Es handle sich um einen schlimmen Fall von Denunziati­on, zumal er keine Beweise nach sich ziehe, sagen viele Kommentato­ren im Internet. Berühmte Sopranisti­nnen wie Anna Netrebko oder Sonya Yoncheva solidarisi­eren sich mit ihm.

In der Tat, in Schutz genommen wird Domingo vor allem von Frauen. Maria Ossowski sagte im SWR: „Der Fall zeigt, wie erbarmungs­los eine schnell urteilende, teilweise moralinsau­re Erotikpoli­zei über einen Menschen herfällt und sein Lebenswerk zerstört. Man sitzt zu Gericht im Internet.“Leonetta Bentivogli­o von der italienisc­hen Tageszeitu­ng„Repubblica“ergänzt: Jeder habe gewusst, dass Domingo „ein Don Juan war. Und in der freizügige­n Theaterwel­t steht er damit nicht alleine“. Sie fuhr fort: „Wir müssen aber auch sagen, dass sein Charme immer viele Frauen angezogen hat, und oft war er es, der sich verteidige­n musste.“

Eingegriff­en in Karrieren hat Plácido Domingo insofern, als er selbst in vielen Gesangsjur­ys saß und so manche junge und hoffnungsv­olle Sängerin eben nicht protegiert­e. Hatte sie ihm vorher schöne Augen gemacht und rächt sich nun, viele Jahre später? Solche denkbaren Spätfolgen darf man nicht außer Acht lassen, ebenso wenig die Tatsache, dass auf so mancher Intendante­ncouch und in mancher Künstlerga­rderobe erotische Geschäfte in gegenseiti­gem Einvernehm­en abgewickel­t wurden.

Ein Heiliger ist Domingo keineswegs. Seine Frau, mit der er seit 1962 verheirate­t ist, hat er offenbar nach Strich und Faden betrogen. Und manuelle oder labiale Anbahnungs­versuche hätte er schon damals als Tabu begreifen müssen. Aber für die Metoo-Debatte scheint er nicht der optimale Kandidat.

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FOTO: DPA Anna Netrebko als Leonora und Plácido Domingo als Graf Luna in Verdis „Troubadour“(Salzburg 2014).

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