Rheinische Post Krefeld Kempen
Krise einer Musterdemokratie
MEINUNG Lange wurde der britische Parlamentarismus weltweit bewundert. Doch nun zeigt die Brexit-Krise, wie verwundbar die Demokratie auf der Insel in Wirklichkeit ist. Das sollte auch uns eine Warnung sein.
Es ist noch gar nicht so lange her, da galt Großbritannien vielen Europäern als ein demokratischer Sehnsuchtsort. Nach dem Krieg wurde die Insel mit ihre jahrhundertealten parlamentarischen Tradition, die ihren Bürgern Freiheit, Identität und einen gesunden Patriotismus schenkte, besonders auch für Deutschland zum Vorbild. Politischer Extremismus und Chauvinismus schien den Briten wesensfremd, Pragmatismus ihre oberste Leitschnur. Weltweit wurde bewundert, wie dem Vereinigten Königreich der Übergang von einem globalen Empire zu einer europäischen Mittelmacht gelang, ohne dass die Briten ihre Werte aufgegeben hätten.
Wer heute auf das viel gepriesene britische Regierungssystem blickt, sieht Chaos, Lähmung, Demagogie. Die nach Ansicht einiger Historiker schlimmste Verfassungskrise des Königreichs seit der blutigen Cromwell-Diktatur im 17. Jahrhundert ist die direkte Folge eines politischen Akts, den der damalige konservative Premierminister David Cameron zu verantworten hat. Um einen lästigen parteiinternen Konflikt zur Europafrage endlich beizulegen, setzte er ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft an. Am 23. Juni 2016 entschieden sich dann rund 52 Prozent der Briten für einen EU-Austritt.
Seit jenem Tag vergiftet die unversöhnliche Konfrontation zwischen der parlamentarischen Demokratie und der direkten Demokratie in Form des Brexit-Votums das politische Klima auf der Insel. Für die Brexit-Anhänger ist der Streit über Europa mit dem Referendum ein für allemal entschieden. Wer sich gegen den Brexit ausspricht oder auch nur dafür plädiert, einen ungeregelten Austritt aus der EU zu verhindern, wird als undemokratisch und – schlimmer noch – als Volksfeind angeprangert. Premierminister Boris Johnson hat ein Regierungsteam zusammengestellt, in dem schon über einen künftigenWahlkampf
diskutiert wird, dessen Stoßrichtung sehr an das erinnert, was ein gewisser Donald Trump in den USA erfolgreich vorexerziert hat: Der kleine Mann gegen die Politiker, das Volk und sein vermeintlicher Wille gegen das Parlament.
Die Abgeordneten des Unterhauses sind, wie auch ihre Kollegen im Bundestag, nicht verpflichtet zu tun, was ein angeblicher Volkswille von ihnen verlangt. Aber Boris Johnson, den in einer Umfrage vom Juni nicht einmal jeder fünfte Brite für einen ehrlichen Mann hielt, tut einfach so, als könnte er sich aussuchen, welche der demokratischen Entscheidungen er respektiert. Dabei wäre es seine Aufgabe, einen politischen Ausgleich zwischen den Positionen zu organisieren. Eine Aufgabe, bei der freilich auch schon seine Vorgängerin Theresa May mit einer toxischen Mischung aus Sturheit und Arroganz gescheitert war.
Johnson indes legt noch eine Schippe obendrauf. Der Trick, das Parlament in eine Zwangspause zu schicken, um den Abgeordneten das Heft des Handelns beim Brexit aus der Hand zu nehmen, tarnt sich als verfassungskonforme Normalität. In Wirklichkeit handelt es sich um einen populistischen Missbrauch der monarchisch geprägtenVerfassung des Landes. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob die Königin sich Johnsons Wunsch auch hätte widersetzen können. Faktisch sind die amtierenden Monarchen nur Handlanger der jeweils regierenden Premierminister.
Jetzt rächt sich das, was lange als besonderes Alleinstellungsmal Großbritanniens galt: der Verzicht auf eine kodifizierte Verfassung wie sie die meisten Staaten haben. Die Briten verlassen sich dagegen auf eine in Jahrhunderten gewachsene verfassungsrechtliche Struktur aus Gewohnheitsrecht, Gesetzen mit Verfassungsrang und dem sogenannten Common Law. Das Konstrukt erwies sich lange als außerordentlich anpassungsfähig und effektiv, aber der Brexit-Streit legt schonungslos seine demokratischen Defizite offen.
Die politischen Kontrollmechanismen, die die Briten einst einführten, dienten vor allem dazu, die Macht der Monarchen zu zügeln und jene des Parlaments zu stärken. In Wirklichkeit aber dominiert die Exekutive schon lange die britischen Institutionen, und dass ein Premierminister, desse Rolle nirgends genau definiert ist, sich zum Tyrannen entwickeln könnte, war einfach nicht vorgesehen. Gegen einen skrupellosen Populisten in der Downing Street 10 sind die britischen Institutionen denkbar schlecht gewappnet.
Gerade wir Deutschen sollten uns verkneifen, anderen Ländern mit viel längerer demokratischer Tradition Lektionen in Demokratie zu erteilen. Aber wir haben zur Zeit der Weimarer Republik am eigenen Leib erfahren, wie sich die Demokratie mit demokratischen Mitteln abschaffen lässt. Die Muster, die man derzeit in Großbritannien erkennen kann, sind nur bedingt mit jener historischen Phase vergleichbar. Aber sie machen dennoch besorgt.
Die Wahlbeteiligung ist auf der Insel heute niedriger als in den meisten anderen europäischen Ländern. Gleichzeitig sind die beiden großen Parteien ideologisch immer extremer geworden. Labour wird heute mit Jeremy Corbyn von einem skurrilen Altsozialisten geführt, während die Tories über die Jahre scharf nach rechts gerückt sind. Die einst dominierenden Blöcke sind von eigenen Mehrheiten inzwischen weit entfernt, aus dem alten Zwei-Parteien-System ist längst eines mit sieben Parteien geworden. Da das britische Wahlrecht aber dafür sorgt, dass diese neue politische Vielfalt sich nicht im Parlament abbilden kann, sehen MillionenWähler kleinerer Parteien ihre Stimmen entwertet.
So etwas schürt gefährliche Frustration, die Männer wie Boris Johnson für ihre Zwecke ausnutzen können. Die Demokratie, so formulierte es einst Winston Churchill, sei zwar die schlechteste aller Staatsformen, aber dennoch die beste, die man bisher gefunden habe. Man müsste hinzufügen: Leider auch eine der verwundbarsten. Die Krise des britischen Modells ist da eine ernste Warnung an uns alle.
Gegen einen skrupellosen Populisten sind die britischen Institutionen
schlecht gewappnet