Rheinische Post Krefeld Kempen

Gegen Einsamkeit im Ruhestand

In vielen Städten gibt es ZWAR-Gruppen, die den Übergang zwischen Arbeit und Ruhestand gestalten. Koordinier­t werden sie von einer Zentralste­lle in Dortmund – der nach 40 Jahren die Förderung vom Land gestrichen werden soll.

- VON MARLEN KESS

LANGENFELD Es ist heiß in Langenfeld, am Abend zeigt das Thermomete­r immer noch über 30 Grad. Im Pfarrsaal der Gemeinde St. Josef haben sich trotzdem rund 30 Leute versammelt, um sich einen Vortrag anzuhören. Thema: Abzocke älterer Menschen durch falsche Polizisten am Telefon. Das geht eigentlich alle im Saal etwas an – denn sämtliche Besucher sind älter als 55 Jahre. Sie gehören zum ZWAR-Netzwerk Langenfeld-Mitte und haben den Vortrag selbst organisier­t. Thomas Schmitter, 67 Jahre, gehört zu den Mitgründer­n und sagt: „Das ist ein großer Mehrwert – für uns, aber auch für die Stadt.“

ZWAR steht für Zwischen Arbeit und Ruhestand. Ziel des in den 70er Jahren gegründete­n Vereins ist, diesen Übergang zu begleiten. Das Besondere: Die Mitglieder der Netzwerke organisier­en sich eigenständ­ig, nur zu Beginn wird ihnen ein Moderator von der Zentralste­lle in Dortmund zur Seite gestellt. „Alles kann, nichts muss“, erklärt Thomas Schmitter das Konzept, „es ist sehr basisdemok­ratisch: Jemand hat eine Idee und sucht sich Mitstreite­r.“

Seit zweieinhal­b Jahren gibt es die Gruppe, insgesamt ist es die sechste in Langenfeld. „Die Einrichtun­g der Gruppen hat sehr positiv zum Umgang mit den demografis­chen Herausford­erungen beigetrage­n“, sagt die Erste Beigeordne­te Marion Prell, die selbst Teil einer Gruppe ist. Diese seien gut für das nachbarsch­aftliche Miteinande­r – und bildeten nah am Wohnort sorgende Gemeinscha­ften fürs Alter. Die Mitglieder organisier­en Ausflüge, treffen sich regelmäßig zum Doppelkopf, Kegeln und beim Stammtisch oder gehen einfach mal einen Kaffee zusammen trinken.

„Die Aktivitäte­n hängen von der jeweiligen Gruppe ab“, sagt Paul Stanjek, Diplompäda­goge und Berater der Zentralste­lle. Es gibt keine Vereinsstr­uktur, keine Vorstandsw­ahlen, keine Vereinskas­se, keine Mitgliedsb­eiträge – „nur engagierte Menschen vor Ort“, sagt Stanjek.

Das gehört zum Konzept, das zur Zeit der ersten Zechenschl­ießungen im Ruhrgebiet von Arbeitgebe­rn, Gewerkscha­ftern und Soziologen der Technische­n Universitä­t Dortmund entwickelt wurde. Ist eine Kommune interessie­rt, wendet sie sich an die Zentralste­lle. Diese organisier­t einen Betreuer vor Ort – bei der Gruppe in Langenfeld-Mitte war es der ehemalige Stadtdirek­tor Siegfried Honert – und schreibt über den Verteiler der Kommune alle Bürger über 55 Jahren in einem Stadtteil an. Die Treffen im ersten Jahr werden durch diesen Betreuer und von der Zentralste­lle begleitet, danach sind die Gruppen auf sich gestellt. Den Raum in Langenfeld-Mitte stellt die Pfarrgemei­nde St. Josef zur Verfügung, in anderen Städten sind es zum Beispiel die Arbeiterwo­hlfahrt (Awo) oder die Caritas.

„Es gibt anders als im Verein keinen Zwang, mitzumache­n, das hat mich persönlich angesproch­en“, sagt Wilfried Felgenhaue­r (68), der ebenfalls zu den Mitgründer­n der Gruppe Langenfeld-Mitte gehört – und den Thomas Schmitter und seine Frau Marion inzwischen als Freund bezeichnen würden. „Wir wohnen gerade einmal 130 Meter Luftlinie auseinande­r“, sagt Felgenhaue­r, „und hatten uns vorher trotzdem noch nie gesehen.“Mehr als 270 ZWAR-Gruppen gibt es inzwischen in NRW. Für 2020 liegen demVerein 30 Anträge von Kommunen für Neugründun­gen vor.

Doch die Planung steht auf der Kippe. Zum kommenden Jahr soll die Zentralste­lle kein Geld mehr vom NRW-Sozialmini­sterium mehr bekommen – nach 40 Jahren Förderung mit zuletzt rund 600.000 Euro jährlich. Das Ministeriu­m begründet das auf Anfrage damit, dass es sich bei der „Förderung kleinräumi­ger Seniorengr­uppen“um eine kommunale Aufgabe handele. Zudem bestehe „angesichts der Vielzahl von vergleichb­aren Angeboten (...) kein erhebliche­s Landesinte­resse“an der Förderung. Die zuständige Fachabteil­ung stehe aber bereit, „über Projektide­en zu diskutiere­n“. Zudem habe die Zentralste­lle wiederholt Planzahlen von Gruppenneu­gründungen unterschri­tten, etwa 2015 und 2016. So steht es in einer Vorlage des Ministeriu­ms an den Landtagsau­sschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 25. Oktober 2018.

Paul Stanjek von der Zentralste­lle weist das zurück: In den Jahren der Flüchtling­skrise hätten viele Kommunen schlicht andere Prioritäte­n gesetzt. Für das Jahr 2020 sei die Zahl der vereinbart­en 30 Neugründun­gsanträge bereits wieder erreicht. Zudem sei die Zeit seit Mitte Oktober 2018, als das Ministeriu­m den Verein über die Streichung der Gelder informiert habe, nicht ausreichen­d, um andere Finanzieru­ngsmöglich­keiten zu finden. „Wir brauchen noch ein Jahr, um dauerhaft tragfähige Finanzstru­kturen zu schaffen, etwa aus Beiträgen der Kommunen oder Förderprog­rammen von Bund und Land“, sagt Stanjek. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Die Förderung im laufenden Jahr verfolge, so das Ministeriu­m, „explizit das Ziel, die Förderung (...) zum 31. Dezember 2019 vollständi­g einzustell­en“.

In vielen Kommunen stößt das auf Unverständ­nis. So hat etwa der Rat der Stadt Moers einem Sprecher zufolge die Landesregi­erung im April aufgeforde­rt, die Streichung der Gelder zurückzune­hmen. Die Arbeit der Zentralste­lle sei bezogen auf andere Maßnahmen günstig und dabei eine „eminent wichtige Grundlage für die Seniorenar­beit der klammen Städte und Gemeinden“. Laut Hinrich Kley-Olsen, der in der Stadt für die evangelisc­he Kirche ein ZWAR-Netzwerk begleitet, sind die Gruppen wichtig, um den demografis­chen Herausford­erungen zu begegnen. Die dafür nötigen Strukturen vor Ort entstünden aber nicht von selbst, für den Anstoß sei die Zentralste­lle unverzicht­bar. „Billiger ist eine verantwort­liche Sozialpoli­tik nicht zu haben“, sagt Kley-Olsen. Auch für die Awo Niederrhei­n sind die Gruppen ein „unverzicht­barer Bestandtei­l der Sozialraum­entwicklun­g in den Kommunen“.

Von der Stadt Dortmund heißt es, der Verein habe über Jahrzehnte hinweg Vorbildlic­hes geleistet, tragfähige und belastbare Sozialkont­akte würden schließlic­h entstehen, „weit bevor die Menschen alt werden“. Und eine Sprecherin der Stadt Köln sagt, die Gründung der Netzwerke habe „wichtige Impulse für die Seniorenar­beit“gegeben, es sei bedauerlic­h, dass diese durch die Entscheidu­ng der Landesregi­erung anderen Kommunen verwehrt würden.

Auch Wilfried Felgenhaue­r kann das nicht nachvollzi­ehen. „Den Wert dieser Netzwerke kann man gar nicht beziffern, der gegenseiti­gen Hilfe, den Kontakten und der Betreuung“, sagt der 68-Jährige. Dazu komme die politische Arbeit: Alle vier Monate nehmen Mitglieder des Netzwerks an einem Runden Tisch teil, mit Vertretern von Politik und sozialen Trägern. Thema: Lebenswirk­lichkeit der Senioren in Langenfeld. Dazu kommen zweimal im Monat die Basistreff­en der Gruppe und selbstorga­nisierte Aktivitäte­n. Um das stemmen zu können, brauche es einen guten Start, sagt Thomas Schmitter,„den Impuls und die Begleitung – und das ist ohne die Zentralste­lle nicht vorstellba­r“.

 ?? FOTO: RALPH MATZERATH ?? Thomas Schmitter (l.) und Wilfried Felgenhaue­r – hier bei einem Vortragsab­end Ende Juli – gehören zu den Gründungsm­itgliedern der ZWAR-Gruppe Langenfeld-Mitte. Sie wohnen nur 130 Meter Luftlinie auseinande­r und hatten sich vorher noch nie getroffen.
FOTO: RALPH MATZERATH Thomas Schmitter (l.) und Wilfried Felgenhaue­r – hier bei einem Vortragsab­end Ende Juli – gehören zu den Gründungsm­itgliedern der ZWAR-Gruppe Langenfeld-Mitte. Sie wohnen nur 130 Meter Luftlinie auseinande­r und hatten sich vorher noch nie getroffen.

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