Rheinische Post Krefeld Kempen
Himmel, hilf
Der Landkreis Görlitz ist für die AfD so etwas wie ihr Wohnzimmer. Völlig ungehemmt hetzen Politiker hier gegen Ausländer, Grüne und Medien. Geht’s auch anders? Ein Besuch in Sachsen.
in den Wahlkreisen Görlitz I bis IV könnte sie alle Direktmandate gewinnen. Wenn Sachsen das Zuhause der AfD ist, dann ist der Landkreis Görlitz ihr Wohnzimmer. Füße auf den Tisch, Hosen runter.
Man kann über Sachsen viele Geschichten erzählen. Über die unglaublich starke AfD. Über unglaublich starke Grüne. Über Leute, die sich abgehängt fühlen. Über 30 Jahre CDU. Über eine SPD, die im Wahlkampf keine Rolle spielt. Keine dieser Geschichten wäre komplett falsch. Aber richtig werden sie erst, wenn man sie alle kennt.
Daher erstmal nach Freiberg, 50 Minuten westlich von Dresden. Robert Habeck hält auf dem Schlossplatz ein sogenanntes TownhallMeeting ab. Man könnte auch sagen, er antwortet auf Fragen. Der Grünen-Chef spricht über Lithium-Akkus und lobt den Kompromiss. Die gut 350 Leute sitzen friedlich auf Pappkartons, lassen einander ausreden. Da heißt es überall, dass hier nur noch Rechtsextreme auf den Straßen herumlaufen, und dann diskutieren sie mit den Grünen über vertikale Landwirtschaft. Verrückt, diese Sachsen.
Robert Habeck sagt, dass Berliner Politiker wie er sich zu lange nicht für den Osten interessiert hätten. Das täte ihm leid. Jetzt aber, wo zu seinen Veranstaltungen in Sachsen und Brandenburg so viele Leute kämen und freundlich diskutierten, wünsche er sich, dass Sachsen Ausgangspunkt für eine neue Bewegung wird. Man kann das Gefühl bekommen, dass die Freiheit Deutschlands weniger am Hindkusch verteidigt wird als in Freiberg, Sachsen.
Das ist ja das Tragische. Die Grünen wollen die Freiheit verteidigen, die AfD auch. Die Grünen reden von Heimatliebe, die AfD auch. Warum klingen Worte so unterschiedlich, je nachdem, wer sie ausspricht?
Auf nach Reichenbach in der Oberlausitz, 15 Minuten westlich von Görlitz. Der Infostand der AfD steht auf einem verlassenen Marktplatz zwischen einem Döner- und einem Asia-Imbiss. Vier Männer warten auf Wähler, aber es kommt bloß ein Reporter. Wenn sie erzählen sollen, mit welchen Sorgen die Bürger zu ihnen kommen, dann reden sie von ganz und gar erstaunlichen Dingen: vom Nahverkehr, vom Handyempfang, von der Braunkohle, von der Grenzkriminalität.
Auf den Straßen Reichenbachs ist an diesem Nachmittag kaum ein Mensch unterwegs. In der Bäckerei am Marktplatz bestellt eine Frau Brot, ein Mann kauft Eierschecke. Was sich die Verkäuferin von der Wahl erhofft? Sie überlegt länger und sagt:„Gesundheit.“Aber die könne man ja nicht wählen.
Sie könnte aber Sebastian Wippel wählen. Er lehnt an der Dönerbude und raucht polnische Pallmall. Der Polizist wollte in Görlitz erster Oberbürgermeister der AfD werden, hat aber in der Stichwahl verloren. Jetzt will er denWahlkreis gewinnen – gegen den Ministerpräsidenten Michael Kretschmer.
Wippel klagt darüber, dass ostdeutsche Rentner weniger Geld bekämen als Flüchtlinge, was nicht stimmt, und darüber, dass AfD-Politiker bei offiziellen Anlässen nicht richtig begrüßt werden, was möglich ist. Er warnt davor, dass es in Sachsens Freibädern bald so zugehen könnte wie im Düsseldorfer Rheinbad, was schon wegen der unterschiedlichen Einwohnerzahlen schwierig wird. Nach einer knappen Stunde hat er jede Strophe des AfD-Liedes aufgesagt. In Erinnerung bleibt vor allem: Gesundheit, wie die Verkäuferin in der Bäckerei sie sich wünscht, ist kein Thema.
Einer der vier Männer am Infostand, es ist der Fraktionsvorsitzende der AfD in Görlitz, Lutz Jankus, trägt ein Lonsdale-Hemd. Dem Reporter gibt er zum Abschied einen Ratschlag mit: „Schön objektiv berichten.“
Das Programm der AfD, das Uwe N. aus der Dürrhennersdorfer Schützenhalle ganz gut findet, hat, schön objektiv, 74 Seiten und trägt die Überschrift „Trau dich Sachsen“. Es ist darin viel die Rede von Stolz und Heimat, vonWerten und Gesetzen. Es ist darin auch, schön objektiv, die Rede von Migrantenambulanzen, von Grenzkontrollen, von Schulbüchern ohne Homosexualität, vom positiven Bild der deutschen Geschichte, und davon, dass Geduldete keine Deutschkurse bekommen und in homogenen Gruppen untergebracht werden sollen. Keinen der Punkte hatte Jankus, der Mann im Lonsdale-Hemd, am Infostand erwähnt.
Wer sich in diesen Tagen mit Sachsen beschäftigt, dem stehen wie Uwe N. die Haare zu Berge. Es wird wahnsinnig viel geredet in diesem Wahlkampf, nur nicht miteinander. Zum Wahlforum des Deutschen Gewerkschaftsbundes in der Europa-Jugendherberge in Görlitz wurden die Direktkandidaten aller Parteien eingeladen – außer der Vertreter der AfD. Ein Moderator mahnt trotzdem, dass er vom Hausrecht Gebrauch machen werde, falls jemand pöbeln sollte. Die AfD sitzt zu dieser Zeit in der Schützenhalle in Dürrhennersdorf und pöbelt und hetzt, ohne dass jemand von seinem Hausrecht Gebrauch macht. In ihrem Wohnzimmer wird die AfD nicht gestört.
Franziska Schubert könnte sie mehr stören. Auch sie wollte Oberbürgermeisterin werden, zog aber schließlich zurück, um Sebastian Wippel zu verhindern. In ihrem Lieblingscafé, der Görlitzer Espressobar Kränzel, soll sie erklären, was geschieht, wenn die Wahl so ausgeht, wie vorhergesagt wird. Es antwortet ihr Lieblingskellner, der gerade vorbeiläuft. Er sagt: „Möge der Himmel uns beschützen.“Schubert setzt da eher auf irdische Dinge – wie Robert Habeck: Zuhören, erklären, ermutigen. Die Situation, sagt sie, ist angespannt. Es sei viel Druck im Kessel.
An diesem Druck ist der Abend in der Schützenhalle in Dürrhennersdorf nicht ganz unschuldig. Mario Kumpf stellt sich in seiner Rede so vor: „33 Jahre alt, gelernter Koch, acht Jahre alte Tochter, Lebensabschnittsgefährtin, wohnhaft in Ebersbach-Neugersdorf, Dunkeldeutschland“. Er schimpft über den „Gender-Gaga“und sagt: „Grüne sind so sinnlos wie Vogelfutter für Kuckucksuhren.“Kumpf sagt auch: „Wir sind nicht die dummen Ossis, wie sie uns immer einreden wollen.“Ein paar Leute klatschen.
Stephan Brandner, der aus Gera kommt und dem thüringischen AfD-Vorsitzenden Björn Höcke überaus nahesteht, stellt sich gar nicht vor. Er belässt es bei dem Hinweis, dass er Beatrix von Storch, seiner Parteikollegin, sehr ähnlich sehe. Brandner erzählt, wie er von Renate Künast, die vor ihm den Rechtsausschuss geleitet hat, das Büro übernommen hat. Er habe es klinisch reinigen lassen, bis in die letzten Winkel. „Gründlichst“, sagt Brandner.
Die Wurzeln der Grünen nennt Brandner: „Terroristen, Kinderschänder, Koksnasen, Klimahysteriker.“Er bezeichnet die Partei
Man kann das Gefühl bekommen, dass die Freiheit weniger am
Hindukusch als in Sachsen verteidigt wird
als dumm und als gesellschaftspolitischen Versager und bezichtigt sie der Orgien. Er nennt die öffentlich-rechtlichen Sender „einen korrupten Haufen“und den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer einen„Pumuckl“. Als er von Robert Habeck spricht, ruft einer: „die Sau.“Und Brandner sagt: „Die Grünen verbreiten Angst und spalten die Gesellschaft.“
Brandner bittet am Ende seiner Ausführungen um Fragen. Uwe N. meldet sich nun doch noch – als Einziger. Wie die AfD zu Homosexualität stehe, will er wissen. Brandner entgegnet, dass das Wort „stehen“in diesem Zusammenhang witzig sei. „Die AfD hat nichts gegen Homosexuelle“, sagt er. Nur in Schulbüchern.
Uwe N., der der AfD an diesem Abend eine Chance gegeben hat, wird schweren Herzens CDU wählen, sagt er. Die AfD sagt, dass die Grünen Angst verbreiten, aber es ist Uwe N., der jetzt Angst hat. Die Hetze, sagt er, habe ihn überrascht und sei unerträglich. Uwe N., 54, aus dem Landkreis Görlitz, sagt: „Schreiben Sie, es sind hier nicht alle so.“