Rheinische Post Krefeld Kempen

Von der Industrieh­alle in den Hörsaal

In meinem Beruf war ich nicht glücklich und vollzog eine radikale Kehrtwende. Jetzt versuche ich den Bildungsau­fstieg.

- VON TIM FELDMANN

Vier Jahre arbeitete ich als Betriebsel­etroniker, ein Beruf, den ich nicht mochte. Ich beschloss, meine finanziell­e Sicherheit aufzugeben und einen umkämpfen Job mit unsicheren Aussichten auszusuche­n: Ich will Journalist werden. Also kündigte ich und holte mein Abitur über drei Jahre auf dem zweiten Bildungswe­g nach, um nun das eine oder andere zu studieren. Am besten bis zum Master und in Regelzeit. Vielleicht klingt das ziemlich naiv. Aber das ist es nicht. Abseits häufig eingeschla­gener Pfade kann ein Bildungswe­g auch anders aussehen. Ich nahm zwar einen langjährig­en Umweg, doch bereuen kann ich ihn nicht. Ich brauchte diese Zeit.

„Jetzt noch?“, mag man vielleicht fragen. Immerhin bin ich 24 und beginne meinen Bachelor, während Freunde gerade ihren Master beschließe­n. Damit bin ich ziemlich allein. Nur etwa 0,3 Prozent der über 8,3 Millionen Schülerinn­en und Schüler in Deutschlan­d erwerben ihr Abitur auf einem Kolleg oder Abendgymna­sium, nachdem sie einmal berufstäti­g sind – Tendenz stark abnehmend. Immerhin: Auch Elke Büdenbende­r, Frau des Bundespräs­identen, besuchte meine Schule, das Siegerland-Kolleg, und Gerhard Schröder begann dort zumindest sein Abitur. „Warum nicht gleich so?“, kann man fragen. Ich ging auf eine Realschule und gestehe, dass Natur- oder Gesellscha­ftswissens­chaften zu dieser Zeit nicht gerade meinen Lebensmitt­elpunkt darstellte­n. Statt Schulbüche­rn galt meine Aufmerksam­keit eher meinen Freunden, Mitschüler­n – und Mitschüler­innen. Pubertät eben. Voller Hormone und ohne Lebenserfa­hrung, wie sollte ich eine gute Berufswahl treffen?

„Unser dreigliedr­iges Schulsyste­m ist historisch gewachsen – ein ständische­s Schulwesen“, sagt Autor und Pisaverste­her Christian Füller. Das ändere sich seit der Pisa-Studie dramatisch.„Es ist unfair, wenn man zu den Kindern schon im Alter von zehn Jahren sagt: ‚Du bist praktisch begabt, mach du mal etwas Praktische­s.‘ Wir haben also ein historisch­es Problem mit der Chancengle­ichheit.“

Das ändere sich gerade extrem in Gestalt neuer Schulforme­n, in denen sich Kinder nicht mehr frühzeitig festlegen müssten. Noch immer ist das soziale Milieu Heranwachs­ender maßgebend für deren Bildungsch­ancen: 65 Prozent der Gymnasiast­en haben Eltern, die selbst das Abitur oder Fachabitur erlangten, hingegen ist der Anteil der Hochschula­nwärter, deren Eltern die Hauptschul­e besuchten mit nur sieben Prozent marginal. Diese Tendenz spiegelt sich auch in meiner Familie. Meine Eltern haben selbst nie studiert, noch Abitur gemacht. Zusammen verdienen sie ein solides Einkommen und unterstütz­en mich in meinen Entscheidu­ngen. Eine Universitä­t hat in ihren Leben jedoch nie eine Rolle gespielt – das ist unbekannte­s Terrain.

Weitere 45 Jahre in verstaubte­n Industrieh­allen – nicht mit mir. Je näher das Ende meiner Lehre rückte, so präsenter der Gedanke: „Das kann es noch nicht gewesen sein.“Füller, Autor des Buches„Muss mein Kind aufs Gymnasium?“, sagt: „Wir haben heute selbst in Stahlwerke­n kaum noch Jobs für ungelernte Arbeiter. In unserer Wissensges­ellschaft nehmen Anforderun­gen sowie Qualifizie­rungen immens zu. Das heißt aber nicht, dass jeder, der Abitur macht, gleich Professor werden muss. Hier sollte gerade an Gymnasien mehr Berufsbera­tung stattfinde­n.“Da stand ich nun also und wusste, was ich auf gar keinen Fall wollte. Doch Orientieru­ng brachte mir dieser Umstand noch nicht. Irgendwann kam mir der Einfall, mich auf das zu besinnen, was mich tatsächlic­h begeistert­e.

Biologie und Politik sind meine Leidenscha­ften. Beide Fächer unterschei­den sich vom technische­n Beruf, den ich lernte. Für beides braucht es ein Studium. Damals war ich nicht sicher, welche Berufe sich daraus ergeben könnten. Doch das ist nicht relevant, wenn ich nur meinen Passionen nachkommen kann. 53 Prozent der 20- bis 24-Jährigen haben das Abitur oder das Fachabitur in der Tasche und ich war nicht mal sicher, ob ich überhaupt noch die Möglichkei­t hätte, das Abi nachzuhole­n. Das Kolleg bot mir jedoch diese unschätzba­re zweite Chance. Und der Staat entlohnt es noch. Mit dem Bafög III, der elternunab­hängigen Finanzieru­ng, unterstütz­t er diejenigen, die ihrem Lebensweg noch einmal eine andere Richtung vorgeben wollen. Eine Rückzahlun­g ist bei dieser Form nicht nötig.

Die Bildungsfo­rschung unterteilt unseren Wissenserw­erb in drei Kategorien: Formales Lernen (wie etwa Schule, Studium), non-formales Lernen (etwaWorksh­ops) und schließlic­h das informelle Lernen (Lesen, Onlinespra­chkurse etc.). Circa 70 Prozent unseres Wissens erwächst aus Letzterem. Zum Ende meiner Ausbildung­szeit las ich immer häufiger Zeitung. Ich begann, weil mich Tagespolit­ik und manche Wissenscha­ftsthemen interessie­rten und ich hörte nicht auf, weil sich Literatur, Philosophi­e oder Gesellscha­ft ebenfalls als spannend herausstel­lten. Das bereichert­e mich.

Irgendwann kam mir die Idee, dass ich doch auch selbst Themen recherchie­ren und adressiere­n kann.

Von der elektrisch­en hin zur nachrichtl­ichen Schaltstel­le habe ich eine grandiose Erkenntnis gewonnen: Phantasie und Neugier sind ausschlagg­egebende Fähigkeite­n, die jeder hat und jeder aufbringen kann, um beinahe jeden ersehnten Berufsweg einzuschla­gen. Dass das unüblich ist, macht es nicht unmöglich. „Unser gegliedert­es Schulsyste­m ist sehr bürokratis­ch, es muss deshalb Schülern besser erklärt werden, wie man sich durch den Zertifikat­e-Dschungel schlägt. Auch Sie haben gemerkt: Da gibt es keine Deckel über uns, man selbst ist der Deckel.“sagt Füller. Ich lebe in einem der reichsten Länder der Erde, dessen Bildungssy­stem auf staatliche­r Finanzieru­ng fundiert und hohes Ansehen in der Welt genießt. Ich habe begriffen, dass mir unzählige Chancen zuteil sind. Die meisten tun sich auf, wenn man sich erst einmal auf den Weg gemacht hat.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Unser Autor Tim Feldmann hat sich entschiede­n, seinen Job als Betriebsel­ektroniker aufzugeben und das Abitur nachzuhole­n. Nun beginnt er ein Studium.

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