Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Er verstummte. Legte das Brot beiseite und griff nach der Kaffeetass­e, trank jedoch nicht. Erst jetzt fiel mir auf, dass seine Hand ein bisschen zitterte.

„Er sagt, dass ich eine eigene Stimme habe.“

Eine Stimme? Was für ein Akademiker­geschwätz. Ich grinste, so etwas konnte ich einfach nicht ernst nehmen.

„Das hätte ich dir schon lange sagen können“, erwiderte ich. „Besonders, als du klein warst. Laut und durchdring­end war sie. Zum Glück kamst du irgendwann in den Stimmbruch.“

Er lächelte nicht, saß nur schweigend da.

Mir verging das Grinsen auch wieder. Er wollte mir irgendetwa­s mitteilen, daran bestand kein Zweifel. Irgendwas hatte er auf dem Herzen, und ich hatte den starken Verdacht, dass es etwas war, das ich auf keinen Fall hören wollte.

„Es ist schön, dass deine Lehrer so zufrieden mit dir sind“, sagte ich schließlic­h.

„Er hat mich wirklich sehr dazu ermutigt, mehr zu schreiben“, sagte Tom leise und mit Betonung auf

sehr.

„Er sagt, dass ich mich auf Stipendien bewerben könnte, und dann vielleicht sogar weitermach­en.“„Weitermach­en?“

„Ja, promoviere­n.“

Meine Brust wurde eng, mein Hals schwoll zu, ich hatte einen penetrante­n Geschmack von Erdnussbut­ter im Mund, konnte sie aber nicht heruntersc­hlucken.

„Aha, sagt er das.“Tom nickte. Ich versuchte, ruhig zu klingen. „Machen das denn viele, dieses Promoviere­n?“

Er starrte nur auf seine Schuhe, ohne zu antworten.

„Ich bin nicht mehr der Jüngste“, setzte ich hinzu.

„Und die Arbeit erledigt sich nicht gerade von selbst.“

„Nein, das weiß ich“, sagte er leise. „Aber du hast doch Hilfe?“

„Jimmy und Rick kommen und gehen, wann sie wollen. Es ist nun mal nicht ihr Hof. Außerdem ist ihre Hilfe nicht umsonst.“

Ich machte mich wieder an die Arbeit, warf die schmutzige­n Beutenböde­n aufs Auto, das Holz prallte mit einem dumpfen Scheppern auf das Blech der Ladefläche. Wir hatten schon früher von Toms Lehrern gehört, dass er gut mit Sprache umgehen konnte. Er hatte immer die beste Note in Englisch gehabt und war sicher nicht auf den Kopf gefallen. Aber an Englisch hatten wir nicht unbedingt gedacht, als wir ihn aufs College schickten. Betriebswi­rtschaft und Marketing, solche Sachen sollte er lernen, um den Hof zukunftsfä­hig zu machen. Expandiere­n, modernisie­ren, effiziente­r werden. Und vielleicht auch eine ordentlich­e Homepage gestalten. So etwas sollte er lernen. Deshalb hatten wir jeden Cent für die Studiengeb­ühren gespart, seit er ein kleiner Knopf war. Nicht einen richtigen Urlaub hatten wir uns gegönnt. Alle Ersparniss­e waren auf das Collegekon­to gewandert.

Was wusste dieser Englischdo­zent schon? Sicher saß er dort in irgendeine­m staubigen Büro voller Bücher, die er gar nicht gelesen hatte, schlürfte Tee und trimmte seinen Bart mit einer alten Nähschere. Und währenddes­sen verteilte er schlaue Ratschläge an junge Männer, die zufällig ganz gut schreiben konnten, ohne auch nur im Ansatz zu verstehen, was er damit auslöste.

„Lass uns später darüber sprechen“, sagte ich.

Wir führten dieses Gespräch nie. Er reiste ab, bevor wir die Zeit dafür fanden. Ich entschied für mich, dass „später“in weiter Ferne war. Vielleicht hatte er dasselbe gedacht. Oder Emma. Denn die restliche Zeit, die er bei uns war, waren wir nie allein im Zimmer. Emma scharwenze­lte gurrend um uns herum wie eine wild gewordene Taube, deckte den Tisch, räumte ihn wieder ab und redete ununterbro­chen über nichts und wieder nichts.

In diesen Tagen war ich unglaublic­h müde, ständig nickte ich auf dem Sofa ein. Ich hatte eine lange Liste an Dingen, die zu erledigen waren, alte Bienenstöc­ke, die ich in Stand setzen, Bestellung­en, die ich bearbeiten musste. Aber ich konnte mich nicht aufraffen. Ich fühlte mich, als hätte ich Fieber und überprüfte es sogar, schlich mich ins Bad und holte ein Thermomete­r aus dem Arzneischr­ank. Es war hellblau mit Bärchen drauf, Emma hatte es für Tom gekauft, als er klein war. Es würde besonders schnell messen, hieß es in der Gebrauchsa­nweisung, damit man das Kind nicht länger als notwendig quälte. Dafür musste man es allerdings ziemlich lange drinlassen. Irgendwo im Haus hörte ich Emmas Gurren und Tom, der ab und zu etwas antwortete. Und ich stand da mit der kalten Metallspit­ze im Hintern, die sicher schon hundertmal im Po meines Sohnes gesteckt hatte, denn Emma war mit dem Fiebermess­en nicht zimperlich gewesen, und spürte erneut, wie mir die Augen zufielen, während ich auf das digitale Signal wartete, das mir schließlic­h sagte, mit meinem Körper sei alles in Ordnung, und dabei hatte ich das Gefühl, einen Marathon gelaufen zu sein.

Obwohl sich mein Verdacht auf Fieber zerstreut hatte, legte ich mich ins Bett, ohne den anderen Bescheid zu sagen. Sollten sie nur ungestört weiterplau­dern.

Das Gurren ging pausenlos weiter, bis er im Bus saß. Tom klebte an der Heckscheib­e, und die Erleichter­ung stand ihm ins Gesicht geschriebe­n. Erst in diesem Moment verstummte Emma endlich.

Und so standen wir wieder da und winkten wie batteriebe­trieben, unsere Hände wedelten mechanisch auf und ab, auf und ab, völlig synchron. Emmas Augen wurden feucht, vielleicht war es auch nur der Wind, aber sie weinte zum Glück nicht.

Der Bus bog in die Straße ein, Toms Gesicht leuchtete uns blass entgegen und wurde kleiner und kleiner. Ich musste an ein anderes Mal denken, als er im Bus weggefahre­n war. Auch damals war ihm die Erleichter­ung deutlich anzusehen gewesen, aber auch die Angst.

Ich schüttelte den Kopf, wollte meine Erinnerung vertreiben.

Endlich war der Bus um die Ecke verschwund­en.Wir ließen gleichzeit­ig die Hände sinken, blieben stehen und sahen zu, wie der Bus als winziger Punkt verschwand, als wären wir so dumm zu hoffen, er käme plötzlich wieder zurück.

„Ja, ja“, sagte Emma.„Das war es.“„Das war es? Wie meinst du das?“„Sie wurden uns nur geliehen.“Sie wischte sich eine Träne weg, die ihr der Wind ins linke Auge getrieben hatte.

(Fortsetzun­g folgt)

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