Rheinische Post Krefeld Kempen
„Es ist ein Irrweg, grüner
Altkanzler trifft Ministerpräsident: Im Düsseldorfer Rheinturm sprechen Gerhard Schröder und Armin Laschet über Karrieren, Krisen und das Kanzleramt.
Herr Bundeskanzler, Sie sind in Mossenberg-Wöhren geboren, Kreis Lippe. Wie viel NRW steckt in Ihnen?
SCHRÖDER Ich bin hier im Land geboren und aufgewachsen. Ich habe im Kreis Lippe meine Lehre als Porzellan-, Glasund Haushaltswaren-Einzelhändler gemacht und beim TuS Talle Fußball gespielt. Nicht so schlecht, aber auch nicht so gut, dass ich Profi hätte werden können. Also blieb mir nichts anderes übrig, als Bundeskanzler zu werden. (lacht)
Die Lipper sind ein bisschen später zu NRW dazugekommen. Sie werden zerrieben zwischen den Westfalen und den Rheinländern. Mussten Sie deshalb in Niedersachsen Karriere machen?
SCHRÖDER Nein, das war nicht der Grund. Ich bin nach Göttingen gegangen, um in einem Eisenwaren-Handel zu arbeiten und abends, so ab halb sieben, noch zweieinhalb Stunden für die Mittlere Reife zu lernen. Ich bin dann wieder zurück nach NRW, weil mein Stiefvater starb und ich etwas näher bei meiner Mutter sein wollte. Ich habe in Weidenau und Bielefeld über den zweiten Bildungsweg Abitur gemacht. In diesen Jahren habe ich von einem Stipendium gelebt, das ich als Halbwaise vomVersorgungsamt bekommen habe. Ich konnte davon ganz gut leben. In den Semesterferien habe ich als Handlanger auf dem Bau gearbeitet, wenn Sie noch wissen, was das ist. Ich habe denVogel getragen. Das war das Gerät, in dem der Mörtel drin ist, den man in dieTonne beim Maurer kippen musste. Eine interessante Erfahrung. Nach Niedersachsen hat mich später mein Studium und meine Arbeit als Rechtsanwalt in Hannover geführt.
Herr Ministerpräsident, war Ihr erster Job auch so hart?
LASCHET Nein, nicht körperlich. Ich war der Erste in der Familie, der nach der Schule studieren konnte. Das war in unserer Familie etwas Besonderes und der Weg entsprechend auch mal steinig. Mein Vater war ein so genanntes Mikätzchen, der vom Steiger aus dem Bergbau als Quereinsteiger in den Lehrberuf wechseln konnte. SCHRÖDER Das ist bekannt, das war nach dem Minister Mikat benannt, oder? LASCHET Ja, er war CDU-Kultusminister unter Ministerpräsident Franz Meyers. Mein Vater hat nachts unter Tage gearbeitet und sich tagsüber an der Pädagogischen Hochschule zum Lehrer ausbilden lassen. Wir waren vier Kinder und die ZVS hat mich an die Universität in München eingeteilt, was schön war, aber auch teuer. Ich habe für 150 Mark pro Monat in einem Kloster gewohnt. Nebenbei habe ich kleine journalistische Beiträge geschrieben.
Zwei ungewöhnliche Aufsteigerkarrieren. Wäre das heute noch möglich?
SCHRÖDER Im Prinzip ja. Aber man muss wohl eingestehen, dass es heute schwieriger geworden ist. Unsere Gesellschaft hat sich ja etwa von der englischen oder französischen dadurch unterschieden, dass für uns damals Durchlässigkeit herrschte. Mein Eindruck ist, dass heute wieder mehr die Herkunft oder die berufliche Sozialisierung der Eltern darüber entscheidet, was man wird. LASCHET Im europäischenVergleich sind wir in Deutschland noch gut. In Frankreich ist das wirklich so, dass die Eliteschulen die politischen Eliten prägen. Auch die Politik in Großbritannien rekrutiert sich so. Die Karrieren von Boris Johnson und David Cameron haben in einem bestimmten Club in Oxford begonnen. Das ist bei uns nicht so. Die große Nachkriegs-Erzählung war, dass Aufstieg für jeden möglich ist. Und dass es den Kindern besser gehen soll als den Eltern. Ich habe vor zehn Jahren im Zusammenhang mit der Integration diesen Gedanken einer „Aufsteigerrepublik“in einem Buch beschrieben. Das ist heute mehr denn je unser Auftrag. Das betrifft Zuwandererfamilien, aber auch viele deutsche Familien.
Warum bestimmt die soziale Herkunft so sehr den Weg? Haben Ihre Parteien versagt?
LASCHET Es gibt viele Erfolgsgeschichten bei Zuwanderern. Nicht nur in der Politik. Auch in der Wirtschaft. Aber der Weg ist oft härter. Man nennt das Resilienz. Wer als Kind von Einwanderern es schafft, muss oft mehr leisten als jemand, der einen inländischen Hintergrund hat. Wir brauchen aber in einem Land mit Fachkräftemangel vor allem Menschen mit einem Abschluss. SCHRÖDER Angesichts des Arbeitskräftemangels und der Alterspyramide brauchen wir Zuwanderung. Wenn die Integration gelingt, ist das für die Gesellschaft also einVorteil. Aber dafür müssen dieVoraussetzungen geschaffen werden. Das ist der Grund, warum die Kanzlerin während der Flüchtlingskrise 2015 nicht hätte sagen sollen „Wir schaffen das“, sondern „Wir können das schaffen“. Denn die Herausforderung der Integration ist vor allem eine der Kommunen und Bundesländer, die finanziell so ausgestattet werden müssen, dass sie etwa für Wohnungen und eine ausreichende Zahl von Lehrern und Sozialarbeitern auch wirklich sorgen können. Vom Bund kommt da zu wenig.
Seit 2015 sind Millionen Menschen gekommen, wir haben zugleich teilweise Probleme mit Zuwanderern in dritter Generation. Können wir alle integrieren und mehr Wohlstand schaffen?
SCHRÖDER Wir können das und wir müssen es schaffen. Die Geschichte der Gastarbeiter lehrt uns, dass viele der Migranten bleiben wollen und bleiben werden. Aber es wird schwer, viele Flüchtlinge müssen erst alphabetisiert werden. Es sind ja nicht nur Zahnärzte und Ingenieure gekommen.
Damals hat der Daimler-Chef von einem möglichen Wirtschaftswunder durch die Flüchtlinge gesprochen.
LASCHET Was am 4. September vor vier Jahren entschieden wurde, hatte nichts mit qualifizierter Zuwanderung zu tun, sondern es ging um die Grundfrage, ob wir, notfalls mit Gewalt, eine Grenze schließen, wenn Hunderttausende auf dem Wege sind. Die Grenzen waren ja seit 30 Jahren offen. Die Frage war: Können wir am Grenzübergang Freilassing in Bayern das europäische Flüchtlingsproblem lösen? Nein, das konnten wir nicht! Aber wir wollten von Anfang an die Zuwanderung steuern und die hohe Zahl ungesteuerter Zuwanderung wieder senken, um zu einer geordneten Zuwanderung zu kommen. Wir brauchen einerseits die Qualifizierten, um die wir werben müssen, und andererseits ein Asylrecht nur für die, die wirklich schutzbedürftig sind.
Das gelingt bis heute nicht.
LASCHET In diesem Prozess sind wir immer noch und es wurde bis heute schon viel geleistet, vor allem in unseren Städten und Gemeinden. Bei den Rückführungen derer, die nicht asylberechtigt sind, liegt Nordrhein-Westfalen an der Spitze der deutschen Länder.
Was hat zum Erstarken der AfD in den vergangenen Jahren geführt?
SCHRÖDER Dort, wo etwa im Osten Deutschlands der Anteil von Asylbewerbern denkbar gering ist, ist der Widerstand am größten, und die AfD nutzt das Thema erfolgreich, umVorurteile zu mobilisieren. Ich bin oft gefragt worden, was ich als Kanzler damals anders gemacht hätte. Als sich die Flüchtlinge an der österreichisch-ungarischen Grenze stauten, hat Frau Merkel auf Bitten des österreichischen Kanzlers völlig richtig entschieden. Sie hatte Herz, aber keinen Plan. Das Problem war, dass wir danach nicht schnell genug zu einem geordneten Dublin-Verfahren zurückgekommen sind, wonach Asylbewerber in dem Land zu registrieren sind, in dem sie die Europäische Union betreten. Wir wussten nicht, wer genau nach Deutschland kommt. Da sind Fehler gemacht worden. Und man hätte viel früher den Aufbau eines europäischen Grenzschutzsystems vorantreiben sollen.
LASCHET Bei Letzterem haben Sie recht. Und wir haben die Probleme in den Herkunftsländern unterschätzt. Auch Deutschland hat in den Jahren vor 2015 die Mittel für Flüchtlingshilfe vor Ort gekürzt, während der Bürgerkrieg in Aleppo eskalierte. Und der europäische Außengrenzschutz hätte mit Schengen erfolgen müssen. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger von offenen Grenzen in Europa. Aber der zweiteTeil, die Außengrenze schützen, das haben wir versäumt und damit die Griechen, die Italiener und die Spanier mit dieser Herausforderung alleine gelassen. Dublin-Verfahren heißt: Der Betreffende kommt hier rein, stellt seinen Antrag und dann entscheidet die Verwaltung. Du warst schon in Italien sicher, also musst du nach Italien zurück. Das muss innerhalb von sechs Monaten erfolgen.
Das passiert ja nicht.
LASCHET Es passiert jetzt zunehmend.
Teilen Sie die Analyse, dass das Wiedererstarken der eigentlich tot geglaubten AfD an dieser Frage liegt?
LASCHET Naja, die AfD ist entstanden als Partei gegen die Eurorettung – ein ganz anderes Thema. Ich bin froh, dass wir an der Europäischen Währungsunion festgehalten haben und auch Griechenland im Euro gehalten haben. Es war vielleicht ein Fehler, dass man Griechenland schon zu Beginn des Euro damals hineingenommen hat. Das war in Ihrer Regierungszeit, Herr Bundeskanzler. SCHRÖDER Aber alle Institutionen von der EU-Kommission bis zur Bundesbank haben das damals befürwortet, da konnten wir als Bundesregierung nicht nein sagen.
LASCHET Jedenfalls ist die AfD bei der Bundestagswahl 2013 nach der Eurorettung unter der 5-Prozent-Marke geblieben. Und dann haben sie durch 2015 einen neuen Schub bekommen, das ist so. Man muss aber sehen, dass die damalige Opposition aus Grünen und Linken in der Flüchtlingsfrage noch weitergehen wollte. Eine kritische Debatte im Bundestag zwischen Regierung und Opposition fand nicht statt. Diese Lücke hat die AfD genutzt. Inzwischen ist das Thema Flüchtlinge nicht mehr das dominierende Thema bei den Menschen.
Herr Schröder, wenn jeder Vierte in Sachsen die AfD wählt, besorgt Sie das, oder ist das ein Sonderphänomen Ost?
SCHRÖDER Es ist ein Sonderphänomen, keine Frage. Wir sollten besorgt sein, aber auch nichts dramatisieren. Denn rund 75 Prozent derWähler in Brandenburg und in Sachsen haben nicht die AfD gewählt. Was wir erleben, ist eine Europäisierung des deutschen Parteiensystems. Früher gab es klare RechtsLinks-Fronten. Und Politiker wie Franz Josef Strauß haben die demokratische Rechte gut abgedeckt. Aber unsere Gesellschaft differenziert sich aus. Und es ist für eine Volkspartei schwierig, dieser Ausdifferenzierung mit einem einzigen Programm politisch zu begegnen.