Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Reinigung der Gaskammer

Bei der Ruhrtrienn­ale wird György Ligetis „Requiem“zur szenischen Erinnerung an den Holocaust.

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

Wenn deutsche Zuschauer aus einem Stück über den Holocaust kommen und schwärmen: „Was für tolle Bilder! Ich habe es so genossen!“, dann kann etwas nicht stimmen. Der ungarische Theaterreg­isseur Kornél Mundruczó hat mit seinem Hang zu großen Bildern und filmischem Erzählen jetzt versucht, über den Holocaust und seine Folgen sowie (auf der Metaebene) über die Struktur des Erinnerns zu arbeiten. „Evolution“ist eins der Hauptwerke der aktuellen Ruhrtrienn­ale und basiert auf György Ligetis Chor-Orchesterk­omposition„Requiem“.

Die Bochumer Symphonike­r unter der Leitung von Steven Sloane und der lettische Staatschor unter der Leitung von Maris Sirmais lassen es am Anfang einmal komplett erklingen und erfüllen die Jahrhunder­thalle mit diesen bis heute ungewöhnli­ch fremd erscheinen­den Klängen, die sie ungemein kraftvoll und fast sezierend genau aufführen. Ligeti hat in diesem Requiem vor allem den Gefühlen Trauer, Ohnmacht und Wut Ausdruck gegeben. „Introitus“und „Kyrie“sind ein Fallen ins Leere, eine Klang gewordene Halt- und Heimatlosi­gkeit, das„Dies irae“eine Entladung des Zorns, der existenzie­llen Grundangst.

Dieses zwischen 1963 und 1965 aufgrund der Erfahrunge­n von Nationalso­zialismus, Stalinismu­s und dem ungarische­n Volksaufst­and entstanden­e Werk wirkt bis heute ungemein stark und berührend aus sich selbst heraus. Die Bilder, die Regisseur Kornél Mundruczó ihm auflädt, sind hingegen problemati­sch. Der Abend ist in die drei Dimensione­n Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft geteilt. Der Zuschauer wird zuerst mit dem Blick in eine verschmutz­te Gaskammer (Bühne: Monika Pormale) konfrontie­rt, die drei Männer zu reinigen versuchen. Diese Bild ist ein Schock, verursacht ein unterschwe­lliges Grauen und Nachdenken darüber, wie Zusammenle­ben und Erinnerung zu gestalten sind in einer Gesellscha­ft, aus der heraus menschheit­sgeschicht­lich gesehen erst vor kurzem ein so unfassbare­s Verbrechen geschehen ist.

Doch irgendwann verselbsts­tändigt sich der Raum, Haare quellen aus den Leitungen und verschwind­en durch Löcher in der Wand, die Männer stolpern und fallen. Auf einmal schreit ein Baby unter einer Gitterabde­ckung: Es ist Eva, nach der die Szene benannt ist, und die drei Reinigungs­kräfte stehen mit ihr unter einem Wasserstra­hl wie die Heiligen Drei Könige mit dem Christuski­nd. Man kommt nicht umhin, zu fragen: Wozu braucht es Slapstick und Kitsch in der Theater-Gaskammer?

Zu bruchstück­haften Wiederholu­ngen des Requiems folgen eine filmrealis­tische Szene, in der Eva mit ihrer Tochter über ihre jüdische Identität, alte Ängste und weiter vererbte Traumata diskutiert. Das hat Potenzial, wirkt aber auch arg konstruier­t. Schlimmer Kulturpess­imismus tritt im mit Laserlicht­ern prätentiös aufgeblase­nen Schluss zu Tage, wenn Evas Enkel nur noch auf den Smartphone-Bildschirm starrt und in seinem verblödete­n Chat-Protokoll unreflekti­ert und antisemiti­sch gemobbt wird.

So produziert „Evolution“zwar große Bilder, ist aber kein großer Wurf.

 ?? FOTO: HEINRICH BRINKMÖLLE­R-BECKER ?? Szene aus der neuen Produktion „Evolution“mit Ligetis Requiem in der Jahrhunder­thalle Bochum.
FOTO: HEINRICH BRINKMÖLLE­R-BECKER Szene aus der neuen Produktion „Evolution“mit Ligetis Requiem in der Jahrhunder­thalle Bochum.

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