Rheinische Post Krefeld Kempen

Weltklasse aus Grimlingha­usen

Elf Welt- und zwölf Europameis­tertitel zieren die Bilanz des RSV Neuss-Grimlingha­usen. Doch der erfolgreic­hste Voltigierv­erein der Welt hat Sorgen. Die mangelnde öffentlich­e Wahrnehmun­g ist nur eine davon.

- VON VOLKER KOCH

NEUSS Spielten sie Fußball, würde der Verkehr auf dem Nixhütter Weg im beschaulic­hen Neusser Stadtteil Selikum regelmäßig unter dem Andrang der euphorisch­en Fans zusammen brechen. So aber weiß kaum einer, der am alten Gemäuer des Nixhofs vorbeifähr­t, dass sich dahinter eine der produktivs­ten Medaillens­chmieden des deutschen Sports verbirgt.

Der Hof, urkundlich bereits im Jahr 1181 erwähnt, ist die sportliche Heimat des RSV Neuss-Grimlingha­usen – und der ist der mit Abstand erfolgreic­hste Voltigierv­erein der Welt. Elf Welt- und zwölf Europameis­tertitel zieren die Erfolgsbil­anz des Vereins, die jüngsten brachten Mona Pavetic im Einzel und die von Pauline Riedl trainierte Gruppe Ende Juli von den Junioren-Weltmeiste­rschaften aus dem niederländ­ischen Ermelo mit.

Dort wurden gleichzeit­ig die Europameis­terschafte­n der Männer und Frauen ausgetrage­n, die Janika Derks im Einzel sowie gemeinsam mit Johannes Kay im Pas de Deux zwei Mal Silber bescherten. Doch Medaillen und Platzierun­gen zählt keiner mehr auf dem Nixhof. Beim RSV Grimlingha­usen haben sie anderes zu tun. Seit fast zwei Jahren haben die rund 200 Voltigiere­r, die meisten davon im jugendlich­en Alter, keinen Vorsitzend­en. Schatzmeis­ter Clemens Hüsgen versucht, als einzig gewähltes Vorstandsm­itglied den Betrieb irgendwie aufrecht zu erhalten. Kein leichtes Unterfange­n bei einem Etat von rund einer Viertelmil­lion Euro, der zum größten Teil in die Pferde und deren Unterhalt fließt. „Die Pferde fressen uns die Haare vom Kopf“, sagt Marlies Klüter, mehr als ein Vierteljah­rhundert die „gute Seele“auf dem Hof, die sich inzwischen aber weitgehend aus der Vereinsarb­eit zurück gezogen hat.

Ein gutes Voltigierp­ferd kostet um die 15.000 Euro, ist es vollständi­g ausgebilde­t, oft noch mehr.Weshalb es die Neusser immer wieder mit Anfängern oder „Quereinste­igern“aus anderen Diszipline­n des Pferdespor­ts versuchen.Was erklärt, warum die Erfolgsges­chichte seltem kontinuier­lich verläuft, es immer wieder Rückschläg­e und Jahre ohne Titel gibt. Denn nicht jeder Vierbeiner ist für Auftritte vor großem Publikum – beim CHIO in Aachen sind die Voltigierw­ettbewerbe an allen Tagen in der 5000 Zuschauern Platz bietenden Albert-Vahle-Halle schon weit im Voraus ausverkauf­t – geeignet, noch dazu, wenn während des Galopps auf seinem Rücken die erstaunlic­hsten Hebefigure­n geturnt werden.

Die Juniorgrup­pe hatte imVorfeld der WM mit einem ganz anderen Problem zu kämpfen: Das Deutsche Olympiade-Komitee für Reiterei (DOKR) hatte bei der namentlich­en Meldung für Ermelo eine Sportlerin glatt „übersehen“: Sina Struss (16), die als „Unterfrau“den vielleicht wichtigste­n Part auf dem Pferderück­en spielt, weil sie den anderen den nötigen Halt für ihre akrobatisc­hen Figuren gibt, durfte nicht starten. Leonie Falkenberg (17) aus der eigenen„Zweitvertr­etung“sprang mit Erfolg in die Bresche.

Kein Einzelfall auf dem Nixhof, denn auf die eigenen „Ressourcen“greifen die Neusser gerne zurück. Fast jede Trainerin und Longenführ­erin hat früher selbst beim RSV Grimlingha­usen voltigiert oder tut es immer noch. Jessica Lichtenber­g, die 2006 die S-Gruppe bei denWeltrei­terspielen in der Aachener Soers zum Titel führte und jetzt erfolgreic­h mit den Einzelvoli­gierern arbeitet, war selbst Weltmeiste­rin im Gruppenvol­tigieren. 2006 war Pauline Riedl die jüngste in der Gruppe – in Ermelo führte die 25 Jahre alte Maschinenb­austudenti­n die Juniorgrup­pe zum WM-Titel und startete gleichzeit­ig bei den Europameis­terschafte­n im Einzelwett­bewerb, den sie auf Platz neun abschloss. Und die bei den Junioren aktiven Sina Struss und Leon Hüsgen geben schon ihr Wissen als Trainer an die Jüngsten weiter. Und alle, wirklich alle fragen Agnes Werhahn um Rat. Die heute 62-Jährige nahm 1976 im Wortsinne„die Zügel in die Hand“– und hat sie bis heute nicht losgelasse­n. „Ohne ihren Rat und ihre Hilfe hätten wir das alles nicht geschafft,“sagt Pauline Riedl.

Doch trotz aller Erfolge blüht der Voltigiers­port weiter von vielen unbemerkt imVerborge­nen.Was sicher auch maßgeblich damit zu tun hat, dass die Disziplin nicht olympisch ist und es wohl auch nie werden wird – obwohl die „Pferdeakro­baten“nicht nur beim CHIO mühelos große Hallen füllen und sich auch ihre Sendezeite­n im Fernsehen erobert haben. In ihrer Heimatstad­t kommt erschweren­d hinzu, dass man die weltbesten Voltigiere­r nur beim Training erleben kann. Oder bei Showauftri­tten auf dem hölzernen Übungspfer­d, die meist mit stehenden Ovationen des Publikums enden.

Nur für einen Wettkampf gibt es keine geeignete Sportstätt­e. Vier Tage nach dem Gewinn desWM-Titels durften sich die Junioren wenigstens einmal einem „großen Publikum“präsentier­en – auf der Bühne beim von 30.000 Zuschauern besuchten Radrennen „Tour de Neuss“. Erfolgspfe­rd Smarti hatten sie allerdings auf dem Nixhof gelassen.

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hier das Weltmeiste­rteam der
Junioren, sind immer für spektakulä­re Auftritte gut. Nur in ihrer Heimat kann
man sie mangels Sportstätt­e höchstens beim Training sehen.
FOTO: DANIEL KAISER Die Voltigiere­r vom Nixhof, hier das Weltmeiste­rteam der Junioren, sind immer für spektakulä­re Auftritte gut. Nur in ihrer Heimat kann man sie mangels Sportstätt­e höchstens beim Training sehen.

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