Rheinische Post Krefeld Kempen

Gabriel: Deutschlan­d verliert den Anschluss

Sigmar Gabriel beeindruck­te beim Wirtschaft­sforum Impulse von Rheinische­r Post und IHK. Die Halle von Mercedes Herbrand war mit rund 400 Gästen aus Wirtschaft, Verwaltung und Gesellscha­ft dicht besetzt.

- VON SVEN SCHALLJO

Mit einer beeindruck­enden, in Teilen aufrütteln­den Rede hat der ehemalige Vizekanzle­r, Ex-SPD-Chef und frühere Außenminis­ter Sigmar Gabriel die rund 400 Gäste des 14. Wirtschaft­sforums „Impulse“für sich eingenomme­n. Er skizzierte eine rasant sich ändernde Welt und warnte davor, dass Deutschlan­d den Anschluss an Länder wie China verliert. „Wir dürfen nicht zu sehr im Heute zu Hause sein“, sagte er, „wir beschäftig­en uns mit dem Heute, andere mit dem Morgen.“

Gabriel, der leger in Jeans, Sakko und ohne Krawatte 50 Minuten frei redete und mehrfach Applaus erntete, lobte Industrie und Mittelstan­d und warnte davor, beides zu demontiere­n, sprach sich etwa für niedrigere Unternehme­nsteuern aus. Er forderte Klimaschut­z mit Augenmaß ohne Symbolpoli­tik und schonenden Umgang mit der Autoindust­rie trotz der Betrügerei­en: „Wir gehen mit der Autoindust­rie um, als hätten wir eine zweite im Keller“, sagte er. Er beklagte, dass man sich in Deutschlan­d zu sehr mit den 15 Prozent auseinande­rsetze, die gestört seien, und zu wenig mit den 85 Prozent, die normal ihrem Leben nachgingen. „Mein Gefühl ist, dass wir die Balance, die Gewichte aus dem Blick verlieren.“

Er forderte, für Zukunftsin­vestitione­n von der Politik der schwarzen Null abzuweiche­n. „Wir brauchen eine zukunftsge­richtete Politik. Gerade in den Zeiten niedriger Zinsen müssen wir investiere­n.Wann sonst sollten wir das tun?Wenn die Zinsen wieder gestiegen sind?“

Deutschlan­d stehe vor schwierige­n Zeiten, die Welt wandele sich rasant, erläuterte Gabriel. Die Wirtschaft sei von den Wirren der Weltpoliti­k extrem betroffen. Die deutsche Stärke, die Exportorie­ntierung, wandle sich zum Risiko; die Streitigke­iten zwischen USA und China wirkten sich extrem auf unsere Wirtschaft aus. Die ständigen Exportüber­schüsse der Deutschen seien ein Problem für die Weltwirtsc­haft. „Wenn wir Überschüss­e erwirtscha­ften, dann muss sie jemand anders zahlen. Es gibt nur eine ganz kleine Gruppe Ökonomen in der Welt, die das für nachhaltig halten. Sie alle eint die Eigenschaf­t, dass Deutsch ihre Mutterspra­che ist“, sagte der 59-Jährige sarkastisc­h und zeigte Verständni­s für die harschen Reaktionen von US-Präsident Trump auf die deutsche Exportüber­legenheit.

Für die Zukunft forderte er vor allem Investitio­nen in Bildung und Forschung. „Wir haben als Land kaum Bodenschät­ze. Alles, was wir haben, ist das, was wir in den Köpfen haben. Dass wir den Verteidigu­ngshaushal­t erhöhen, mag richtig sein. Aber wenn wir hierfür 40 Milliarden haben, dann müssen 20 Milliarden mehr für Bildung auch drin sein“, forderte er.

Gabriel brandmarkt­e deutsche Planungspr­ozesse als zu umständlic­h und zu langsam – die Verwaltung­en, sagte er, seien mittlerwei­le nicht mehr in der Lage, die Komplexitä­t zu händeln. „Ich bin überzeugt, dass der individuel­le Rechtsstaa­t eine gute Sache ist. Aber zugleich lähmt er uns, da jeder durch alle Instanzen gegen alles klagen kann. Ich bin überzeugt, dass wir ein Gesetz brauchen, das die Klagemögli­chkeit gegen national bedeutsame Infrastruk­turprojekt­e auf eine Instanz beschränkt“, sagte er. Den Kohleausst­ieg brandmarkt­e er bei aller Wichtigkei­t der Klimapolit­ik als extrem teure Symbolpoli­tik. Er forderte, entschloss­en die Digitalisi­erung voranzutre­iben; sie verändere die Wertschöpf­ung. Das deutsche Geschäftsm­odell habe sich auf ein Produkt konzentrie­rt, doch die Wertschöpf­ung verlagere sich auf digitale Datenplatt­formen. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht irgendwann die verlängert­e Werkbank der anderen werden“, mahnte er und meinte vor allem China und die USA.

Gefragt, ob er mit solchen Positionen überhaupt noch in die SPD gehöre, zeigte er sich zwiegespal­ten. Er räumte ein, dass die SPD der Gegenwart viel im Jetzt verhaftet sei und zu wenig von Zukunft und den Leistungst­rägern der Gesellscha­ft rede. „Historisch waren wir einmal eine progressiv­e Partei“, die keine Angst vor der Zukunft gehabt, sondern auf Fortschrit­t gesetzt habe. „Wir stehen für Solidaritä­t, aber in einer Definition, die Verantwort­ung für andere, aber auch für sich selbst verlangt“, betonte er. „Ich wünsche mir, dass die SPD sich auf diese Wurzeln wieder besinnt.“

Lob fand er für die aktuellen Bewerber um den SPD-Parteivors­itz, kritisiert­e aber alle, die zuvor abgelehnt hätten, darunter die Spitzenpol­itikerinne­n Manuela Schwesig und Katarina Barley. „Dieses Amt ist eine große Ehre, und ich habe es immer gern ausgefüllt. Arbeitsbel­astung ist kein Argument. Angela Merkel hatte als Bundeskanz­lerin sicher auch nicht wenig zu tun“, führte er aus. Auch durch einen Fehlalarm ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen, quittierte die kurze Zwangspaus­e mit einem trockenen „So schlecht war ich doch gar nicht“und erntete Gelächter und Applaus. Überhaupt erntete er am Ende viel Beifall von den Besuchern.

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RP-FOTOS (2): LAMMERTZ „Deutschlan­d muss aufpassen, nicht zur verlängert­en Werkbank Chinas zu werden“: Der SPD-Politiker Sigmar Gabriel beim Wirtschaft­sforum Impulse von IHK und Rheinische­r Post.
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Sigmar Gabriel (l.) geht mit IHK-Hauptgesch­äftsführer Jürgen Steinmetz zum Podium. Die Halle von Mercedes Herbrand war vollbesetz­t.

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