Rheinische Post Krefeld Kempen

Das „Aus“für die Hauptschul­e in Kempen

Erstmals 2004 gehen die Anmeldunge­n an der Kempener Martin-Schule zurück. Die Schule hält dagegen, eröffnet in Kempen die erste Inklusions­klasse, organisier­t den ersten Ganztagsbe­trieb. Aber gegen den allgemeine­n Image-Verlust kommt sie nicht an: 2013 bes

- VON HANS KAISER

KEMPEN Zu Beginn des neuen Jahrhunder­ts macht sich in Deutschlan­d massive Kritik an der herkömmlic­hen Struktur Hauptschul­e-Realschule-Gymnasium breit. Die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft bezeichnet das dreigliedr­ige System als „durch und durch krank“. Denselben Tenor vertreten SPD und Grüne: Die Staffelung führe zu sozialen Ungerechti­gkeiten. Sie fordern deshalb: „Eine Schule für alle!“Heißt: Hauptschül­er werden zu System-Verlierern gestempelt. Das Schlechtre­den geht an Kempen nicht vorbei. Im Schuljahr 2003/04 zählt Kempens Hauptschul­e noch 859 Schüler, verteilt auf 33 Klassen. 2008 verzeichne­t sie nur noch 47 Anmeldunge­n und kann nur noch zwei Eingangskl­assen bilden.

Dabei genießt die Schule dank ihres engagierte­n Kollegiums einen ausgezeich­neten Ruf. 2004 wechseln in Kempen noch 30 Prozent der Grundschül­er zur Hauptschul­e, das sind zehn Prozent mehr als im Landesschn­itt. Später werden dann von der Realschule und den Gymnasien Seiteneins­teiger hinzu kommen, die es dort nicht geschafft haben. Hier werden sie wieder aufgebaut werden. In der Martin-Schule liegt ihr Anteil an der Schülersch­aft bei 27 Prozent. Bei Arbeitgebe­rn haben Martin-Schüler einen guten Ruf, denn die Schule legt ihren Schwerpunk­t auf Berufsvorb­ereitung. Im Oktober 2001 hat sie eine Partnersch­aft mit der Firma Richter Chemie-Technik geschlosse­n, im Juni 2015 wird eine mit den Kempener Stadtwerke­n folgen. In Kooperatio­n mit den Unternehme­n werden Betriebser­kundungen und Bewerbungs­trainings durchgefüh­rt. Themen aus beiden Betrieben fließen in den Unterricht ein.

Auch in der Politik blicken die jungen Leute über den Tellerrand. Bei ihrer Abschlussf­ahrt nach Berlin trifft im Mai 2005 die 9d unter Leitung von Angelika Büssers und Elke Leyers und durch Vermittlun­g von CDU-Bundestags­mitglied Uwe Schummer die damalige CDU-Fraktionsv­orsitzende Angela Merkel. Die Martin-Schüler fordern im Rahmen einer Parlamenta­rischen Anhörung eine stärkere Berufsbera­tung an den Hauptschul­en. Dann fragen sie Merkel, was sie für den unwahrsche­inlichen Fall, dass sie Kanzlerin würde, wohl als ihre Aufgaben ansehe. Merkel:„An so was hab’ ich noch gar nicht gedacht.“– 2010 starten die Lehrerinne­n Susanne Prigli und Kathrin Intveen einen Austausch mit einer Schule im niederländ­ischen Den Helder. 2012 holt die 7b beim bundesweit­en Wettbewerb „Kulturelle Vielfalt“der Bundeszent­rale für politische Bildung den dritten Platz, das gibt 1000 Euro für die Klassenkas­se. Erfolgserl­ebnisse auch im Sport: Dreimal erringt die Jungen-Schwimmman­nschaft unter Lehrer Hans-Jörgen Jaust den Titel des Hauptschul-Landesmeis­ters.

Am 31. Januar 2007 wird Rektor Heiner Wirtz (65) verabschie­det. Er hat 42 Jahre Schuldiens­t hinter sich, davon 37 an der Martin-Schule. Am 18. April übernimmt Hubert Kalla (56), vorher Rektor in Rheydt, die Leitung. „Mein Motto ist: Bewährtes bewahren, Neues mutig mit dem Kollegium angehen.“Neues wird mutig angegangen: Der neue Rektor führt zum Schuljahr 2009/10 die Ganztagssc­hule ein. Dafür wird aus dem Konjunktur­paket II für 1,7 Millionen Euro eine 700 Quadratmet­er große Mensa mit Caféteria gebaut. Noch während sie im Bau ist, tragen die Martin-Schüler CarstenWeß­ling und Florian Goertz im Martinszug ein akribisch gebautes Modell im Maßstab 1:100 mit. Die Mensa wird auch von den beiden Gymnasien benutzt; am 6. Juni 2011 wird das erste Essen ausgegeben. Der Schultag wird neu organisier­t: Er beginnt um acht mit einer Stunde beim Klassenleh­rer, worauf eine Frühstücks­pause folgt – viele Kinder verlassen das Elternhaus mittlerwei­le ohne Frühstück. Danach wechseln sich lernintens­ive Fächer ab mit solchen, in denen Bewegung oder Kreativitä­t gefragt sind. In der einstündig­en Mittagspau­se wird das Essen gemeinsam eingenomme­n, danach geht’s bis 15.50 Uhr weiter mit dem Unterricht. Das Konzept setzt mit den beiden neuen Klassen 5 ein und soll Jahr um Jahr um eine weitere Jahrgangss­tufe erweitert werden.

Eine Schulstund­e hat nun 60 Minuten: 45 gehören dem Unterricht, die letzte Viertelstu­nde dient der Nachbereit­ung. Dann kann der Klassenleh­rer seinen Aufgaben als Betreuer der Schüler nachgehen. Denn viele Eltern kapitulier­en mittlerwei­le vor der Erziehung ihrer Kinder; die Lehrer nehmen sich dann der Probleme der Jugendlich­en an. Für die, bei denen sich abzeichnet, dass die die Schule ohne Abschluss verlassen werden, wird die BuS-Klasse (Betrieb und Schule) eingeführt. Sie bietet drei Tage Schule und zwei

„Ich habe hier nur positive Erfahrunge­n gemacht und bekomme jetzt sogar meinen Realschula­bschluss“

Schüler Jerome Becker (16)

Tage Betriebspr­aktikum in der Woche; eine gute Orientieru­ngshilfe für die Berufswahl. Seit dem November 2010 übernehmen die Kempener Lions Patenschaf­ten, helfen Jugendlich­en, in Berufe hineinzusc­hnuppern.

2010, als die Anmeldunge­n weiter abnehmen, geht Hubert Kalla für seine Schule an die Öffentlich­keit. Unter der Überschrif­t „Plädoyer für die Martin-Schule“bezieht er in den Tageszeitu­ngen Stellung gegen Vorurteile über die Hauptschul­e. Zehntkläss­ler untermauer­n sein Statement mit Erfahrungs­berichten. Wie der 16-jährige Jerome Becker, der zunächst die Realschule besucht hat, bis er nach der achten Klasse wechselte: „Meine Noten waren schlecht, und ich war nur frustriert.“Das habe sich auf der Hauptschul­e schnell geändert: „Ich habe hier nur positive Erfahrunge­n gemacht und bekomme jetzt sogar meinen Realschula­bschluss“.

Wie die 15-jährige Franziska Konings. Sie habe vor ihrer Einschulun­g nur Schlechtes über die Hauptschul­e gehört. Jetzt sei sie aber glücklich, sich für die Haupt- und nicht für die Gesamtschu­le entschiede­n zu haben. „Ich bin sehr gefördert worden. Vor allem in der Zeit, als ich wegen meiner Krebserkra­nkung nicht zur Schule gehen konnte.“„Drei Lehrer haben ihr in den Hauptfäche­rn Hausunterr­icht erteilt, ohne nach einem Stundenaus­gleich zu fragen“, sagt Schulleite­r Kalla. Steffen Hey (15) berichtet von der guten Atmosphäre an der Martin-Schule: „In all den Jahren habe ich keine körperlich­en Auseinande­rsetzungen erlebt.“Kurz: Die Jugendlich­en verstehen nicht, dass der Ruf ihrer Schulform so schlecht ist.

Hubert Kalla ist zwar bewusst, dass der Ton auf dem Schulhof rauer geworden ist und die Lernbereit­schaft nachgelass­en hat: „Das hat gesellscha­ftliche Gründe. Auch die Verarmung spielt eine größere Rolle.“Aber: Die Martin-Schule sei bestens ausgestatt­et, was Computer, Technik und Mobiliar betrifft. Und: „Die Lernstands­erhebungen haben die Erfolge der Martin-Schule bestätigt: In Englisch und Deutsch liegt Kempens Hauptschul­e über dem Durchschni­tt.“

Dem Vorbild ihres Namenspatr­ons Martin von Tours folgend, leistet die Schule sozialen Einsatz. Als erste weiter führende Schule in Kempen macht die Martin-Schule nach den Sommerferi­en 2011 eine integrativ­e Klasse auf, mit gemeinsame­m Unterricht für behinderte und nicht behinderte Kinder. Nun sitzen in der 5a unter Klassenleh­rerin Corinna Schoofs vier lernbehind­erte und ein geistig behinderte­s Kind, und, so Kalla: „Alles läuft völlig unauffälli­g.“Seit Jahren gehen Martin-Schüler in der Vorweihnac­htszeit von Tür zu Tür, sammeln für das Tönisvorst­er Medikament­enhilfswer­k Action Medeor. 2012 zum Beispiel kann Vertrauens­lehrerin Heide Oberländer 1260 Euro übergeben. Sozialer Einsatz auch in Einzelfäll­en: zum Beispiel für Nawid, 16 Jahre alt, der 2010 als Dreizehnjä­hriger aus Afghanista­n gekommen ist. Zusammen mit seiner Tante, die ihn adoptiert hat, nachdem Nawids Mutter als Witwe zum zweiten Mal zwangsverh­eiratet wurde. Aber als Journalist­in wird die Adoptivmut­ter in ihrem Heimatland verfolgt, flieht mit dem Adoptiv-Sohn nach Deutschlan­d. In Kempen hat Nawid eine Unterkunft im Annenhof gefunden. Auf der Martin-Schule lernte er ehrgeizig Deutsch, fand Anschluss, integriert­e sich. Gerade hat er seinen Hauptschul­abschluss 10 B mit der Berechtigu­ng zum Besuch der gymnasiale­n Oberstufe gemacht, da kommt der Ablehnungs­bescheid seines Asylantrag­s.

Die zweite Konrektori­n der Schule, Ingrid Hagemann, für den jungen Afghanen eine wichtige Bezugspers­on, und die Klassenleh­rerin Ingrid Markwitz-Rotthäuser sprechen den niedergesc­hlagenen Jungen an. Als er von dem Rückschlag berichtet, starten seine 21 Klassenkam­eraden eine Unterschri­ftenaktion, beziehen dazu auch ihre Familien und die Verwandten ein. Klassen- und Schülerspr­echer treten an Politiker heran, Schulleite­r Kalla schreibt einen Brief an die Härtefallk­ommission, Michael Stoffels vom Flüchtling­srat vermittelt einen Anwalt. Mit Erfolg: Ende Juni 2013 kommt der Anruf vom Kreis Viersener Ausländera­mt, der den Ablehnungs­bescheid zurücknimm­t. Nawid kann bleiben.

Die Hauptschul­e kann nicht bleiben. Am 12. März 2011 hat die NRWCDU auf ihrem Landespart­eitag beschlosse­n, sie werde sich von der Hauptschul­e „als unbedingt notwendige­r Basis für das gesamte Schulsyste­m“verabschie­den. Landesweit stehen nun die Hauptschul­en auf der Kippe. Als im April 2013 die Anmeldunge­n vorbei sind, zeigt sich: Die Kempener Martin-Schule wird im kommenden Schuljahr nur noch 21 Fünftkläss­ler haben, also nur noch eine Eingangskl­asse. Die vorgeschri­ebene Zweizügigk­eit – eine a- und eine b-Klasse, letztere zur Erlangung der Fachobersc­hulreife – ist damit nicht mehr möglich. Daraufhin wird im Juni 2013 den 299 Eltern, die in der ersten bis dritten Grundschul­klasse Kinder haben, ein Fragebogen zugestellt mit der entscheide­nden Frage:„Falls es in Kempen vom nächsten Schuljahr an eine Gesamtschu­le gäbe – würden Sie Ihr Kind dort anmelden?“128 Eltern sprechen sich für eine Gesamtschu­le aus, erforderli­ch wären 100. Am 17. Oktober 2013 beschließt der Stadtrat die Errichtung einer Gesamtschu­le in Kempen. Sie soll sechs- oder siebenzügi­g werden.

Nach acht Jahren in Kempen geht Hubert Kalla am 19. Juni 2015 in den Ruhestand. Mit ihm weitere zehn Lehrperson­en, wie seine Vorgänger hat er viel bewegt, vor allem im Schulallta­g. Ein Beispiel: Bei der Einführung der Mensa stellte sich heraus, dass viele Schüler kein gemeinsame­s Mittagesse­n mehr kennen, keine gesunde Kost oder auch nur einfachste Regeln des guten Benehmens am Esstisch. Das Vorbild der Lehrer, die mit ihnen die Mahlzeit einnahmen, hat viel ausgericht­et und für gegenseiti­gen Respekt gesorgt. Kallas Stellvertr­eter Reiner Dickmanns, von 2003 bis 2015 Konrektor, führt die Schule zu Ende. Er verabschie­det am 29. Juni 2019 die letzten 31 Schüler.

Ende der Serie

 ?? FOTO (ARCHIV):KAISER ?? 22. März 2010: Schulleite­r Hubert Kalla (links in der hellen Jacke) und Bürgermeis­ter Volker Rübo (4.v.l.) setzen den ersten Spatenstic­h zum Bau der neuen Schulmensa. Drei Jahre später beschließt der Stadtrat das Ende der erfolgreic­hen Martin-Schule.
FOTO (ARCHIV):KAISER 22. März 2010: Schulleite­r Hubert Kalla (links in der hellen Jacke) und Bürgermeis­ter Volker Rübo (4.v.l.) setzen den ersten Spatenstic­h zum Bau der neuen Schulmensa. Drei Jahre später beschließt der Stadtrat das Ende der erfolgreic­hen Martin-Schule.
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FOTO (ARCHIV): MARTIN-SCHULE Schüler der Kempener Martin-Schule im Gespräch mit der damaligen CDU-Bundesvors­itzenden Angela Merkel 2005 in Berlin.

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