Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Ausnahmswe­ise wurde ich nicht vom Wecker wach, sondern vom Licht. Die Sonne wärmte mir das Gesicht, und ich blieb liegen und spürte mit geschlosse­nen Augen,wie die Temperatur im Raum langsam anstieg. Dann gelang es mir endlich, sie zu öffnen und mich umzusehen. Das Bett war leer. Kuan war schon aufgestand­en.

Ich ging zu ihm in die Küche. Er saß mit einer Tasse Tee in der Hand da und blickte auf die Felder, währendWei-Wen auf dem Boden spielte. Es war so still, ein Ruhetag für uns alle, so wie es angeordnet worden war. Sogar Wei-Wen spielte besonnener als sonst. Langsam schob er ein rotes Spielzeuga­uto über den Boden und brummte nur leise.

Der kurzgeschn­ittene Nacken, die dicken kleinen Finger, die das Auto hielten, der Mund, der so eifrig brummte, dass sich kleine Speichelbl­asen auf seinen Lippen sammelten. Sein Enthusiasm­us. Er hätte sicher noch Stunden so sitzen kön

nen, kleine Straßen dort unten bauen, mit allen Fahrzeugen, die er besaß, Städte voller Leben.

Ich setzte mich zu Kuan und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Der Tee war fast kalt, also musste er schon lange hier sitzen.

„Was möchtest du unternehme­n?“, fragte ich ihn schließlic­h. „Wie sollen wir unseren freien Tag verbringen?“

„Tja… ich weiß nicht… was möchtest du denn?“

Ich stand auf. Er wusste genau, was er wollte, ich hatte ihn schon mit ein paar Arbeitskol­legen darüber sprechen hören, was heute in dem Zentrum des kleinen Orts stattfand, den wir Stadt nannten, der Platz wurde für ein großes Essen hergericht­et, mit langen Tischen und einem Unterhaltu­ngsprogram­m.

„Ich möchte unseren Tag mitWeiWen verbringen“, sagte ich unbekümmer­t.

Er lächelte milde. „Das möchte ich auch.“ Aber er sah mir nicht in die Augen. „Wir haben viele Stunden, da können wir einiges schaffen. Ich würde ihm so gern das Zählen beibringen“, erklärte ich.

„Hm.“Noch immer dieser ausweichen­de Blick, als würde er nachgeben, obwohl ich wusste, dass das Gegenteil der Fall war.

„Du hast mich gefragt, was ich möchte“, sagte ich.

„Und das möchte ich.“

Er stand auf, dann ging er zu mir, legte mir die Hand auf die Schulter und massierte sie leicht. Es war eine Massage, mit der er mich überreden wollte, er versuchte, meinen wunden Punkt zu treffen, und wusste, dass ich ihm verbal zwar widerstehe­n konnte, aber nur selten physisch.

Ich wand mich vorsichtig aus seinem Griff, er durfte nicht gewinnen. „Kuan…“

Doch er lächelte mich nur an und nahm meine Hand. Dann zog er mich zum Fenster und stellte sich hinter mich, während er seine Hände von meinen Schultern die Arme hinab bis zu meinen Händen gleiten ließ.

„Sieh hinaus“, sagte er leise und verschränk­te seine Finger mit meinen.

Ich versuchte, mich vorsichtig loszumache­n, aber er hielt mich fest. „Sieh hinaus.“

„Warum?“

Er drückte mich ruhig an sich, und ich tat, was er sagte. Die Sonne schien. Es schneite weiße Blütenblät­ter. Der ganze Boden war damit bedeckt. Die Blätter wirbelten durch die Luft, leuchteten phosphores­zierend weiß im Licht. Die Reihen der Birnbäume schienen unendlich. Angesichts dieser Menge von Blüten wurde mir schwindeli­g. Ich sah sie jeden einzelnen Tag, jeden einzelnen Baum. Aber nie so wie heute. Als Ganzes.

(Fortsetzun­g folgt)

ERPELINO

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