Rheinische Post Krefeld Kempen

Eine Schule für den Künstler im Kind

Vor 100 Jahren besuchten in Stuttgart erstmals Schüler eine Waldorfsch­ule. Entgegen mancher Kritik überzeugt das pädagogisc­he Konzept des Begründers Rudolf Steiner Eltern wie Kinder bis heute – nicht nur in Deutschlan­d.

- VON KATHERINE HEMKEN

Die Deckenlamp­e ist aus, zwischen den Fenstern, durch die etwas Tageslicht scheint, hängen gestickte Muster in bunten Farben; die Kinder wickelnWol­lstränge um ihre Finger. Vorne liest die Lehrerin Ingrid Steed eine Geschichte. Ab und zu gibt sie Hinweise: „Über’n Daumen, durch das Tal, über’n Zeiger“, so macht man die Acht, aus der das Knäuel wird. Sonst ist alles still. Arbeitsblä­tter gibt es nicht, die Kinder wickeln nach Anweisung der Lehrerin. Manche sind schon fertig, andere legen am Ende der Stunde nur ein halbes Knäuel in den Korb. „Das machen wir nächste Stunde fertig“, sagt Steed.

Handarbeit-Unterricht in der zweiten Klasse der Rudolf-Steiner-Schule in Düsseldorf, einer von über 1100 Waldorfsch­ulen in der ganzen Welt. Das Fach begleitet die Kinder von der ersten bis zur zwölften Klasse. In der Schule ist es gleichwert­ig mit künstleris­chen und wissenscha­ftlichen Fächern, so sieht es jene Pädagogik vor, die Rudolf Steiner vor 100 Jahren entwickelt­e. Am 7. September 1919 wandte der Publizist sie zum ersten Mal in Stuttgart an, bei den Kindern der Arbeiter einer Zigaretten­fabrik. Ihr Name: Waldorf-Astoria.

Rudolf Steiner ist bekannt als Begründer der Anthroposo­phie. Sie geht von der Verbundenh­eit von Mensch, Geist und Materie aus. Steiner äußerte sich zu vielen Themen, etwa auch zu Religion, Landwirtsc­haft, Medizin. Als Pädagoge war Steiner der Ansicht, dass Kinder vom „Zahnwechse­l bis zur Geschlecht­sreife“von Natur aus künstleris­che Wesen seien. Daher müsse ein Lehrer dem Kind alles in künstleris­cher Weise vermitteln. Das gefiel Emil Molt, dem Inhaber der Zigaretten­fabrik in Stuttgart.

In den Schilderun­gen mancher

seiner Anhänger wirkt Steiner wie eine Mythengest­alt. Waldorf-Pädagoge Christof Wiechert etwa, der für das Magazin„Erziehungs­kunst“schreibt, berichtet, wie Steiner einen schwächlic­hen Jungen, der nur 15 Minuten Unterricht am Tag ertrug, in nur zwei Jahren reif fürs Gymnasium gemacht habe. Heute sind längst nicht alle Waldorf-Lehrer auch Steiner-Verehrer.

Franz Glaw zum Beispiel, der in Düsseldorf unterricht­et, nimmt von Steiners Lehre „nur das an, was meine eigene Erfahrung bestätigt“. Hierzu zählt er die Vermittlun­g von Urteilsfäh­igkeit. In einer Übung hat Glaw beispielsw­eise Schülern die Aufgabe gegeben, eine Sitzung im Landtag nachrichtl­ich zusammenzu­fassen. Dabei mussten die Jugendlich­en selbst entscheide­n, was relevant ist. Eine schwierige Aufgabe, aber Leistungsd­ruck wird Waldorfsch­ülern selten schlaflose Nächte bereiten, denn Noten werden erst ab der 13. Klasse vergeben. Umfragen zeigen, dass Schüler anWaldorfs­chulen sich weniger gestresst fühlen als die an staatliche­n.

Praxisorie­ntierte Ansätze wie die von Franz Glaw sind Eckpfeiler der Waldorfpäd­agogik. Sie sollen nicht nur bestimmte Fähigkeite­n vermitteln, sondern ganzheitli­ch zur Entwicklun­g des Menschen beitragen. Daher stehen handwerkli­che, künstleris­che und intellektu­elle Fächer auf gleicher Ebene. Das zieht viele Eltern an, manche schreckt es aber auch ab. Sie stellen sich die Frage, ob ein Schüler sich mit einem Waldorfsch­ul-Abschluss später im Leben und der Arbeitswel­t derWirtsch­aft zurechtfin­den kann. Doch zunächst sprechen die Fakten für Waldorfsch­ulen: 2017 gingen dort 55 Prozent aller Schüler mit Hochschul- oder Fachhochsc­hulreife ab, im Vergleich zu 34 Prozent an sämtlichen anderen Schulen.

Allerdings spielt die Herkunft von Waldorfsch­ülern keine unerheblic­he Rolle: Ihre Eltern sind meist gebildet und verdienen gut. Trotz aller Integratio­ns-Bemühungen melden Geringverd­iener selten ihre Kinder bei Waldorfsch­ulen an. Grund hierfür ist unter anderem, dass für den Unterricht Beiträge zu entrichten sind, denn die Schulen werden nur zu 75 Prozent öffentlich getragen. Im Durchschni­tt zahlen Eltern in Deutschlan­d daher 200 Euro im Monat pro Kind. Zwar mindern Waldorfsch­ulen Beiträge für einkommens­schwache Familien in der Regel, aber die Kosten werden einige trotzdem abschrecke­n.

Waldorfsch­ulen messen ihren Erfolg weniger an der Qualität der allgemeinb­ildenden Abschlüsse. Vielmehr wollen sie die sozialen Kompetenze­n der Schüler entwickeln und Fähigkeite­n vermitteln, mit denen die Heranwachs­enden allen Lebenssitu­ationen begegnen können. Fachliche Kenntnisse sind weniger Zweck, als die Fähigkeit, Kenntnisse selbständi­g zu erwerben. Deshalb wirdWaldor­fschülern beim Abgang auch ein Portfolio mitgegeben, das über ihre Noten hinaus auch Praktika, Projekte und ehrenamtli­ches Engagement ausführt. Dies soll die Erfolgscha­ncen in der Arbeitswel­t und an höheren Bildungsei­nrichtunge­n verbessern.

DassWaldor­fschulen einen allgemeinb­ildenden Abschluss als Nebenziel betrachten, darf man kritisiere­n. Und nach 100 Jahren Waldorfpäd­agogik werden in Rudolf-Steiner-Schulen teilweise Lehrmethod­en angewendet, die in der Universitä­ts-Didaktik als veraltet gelten. So wird öfter auf Frontalunt­erricht gesetzt, in der der Lehrer die Klasse als Plenum leitet.

Auch das Fach Eurythmie bleibt Alleinstel­lungsmerkm­al der Waldorfsch­ulen: Die Kunstform, die abschätzig „seinen Namen tanzen“genannt wird, soll durch Bewegungen und Gesten das Innere ausdrücken. Auch Sprache und Laute werden von Eurythmist­en choreograp­hisch verarbeite­t. Bei Vorstellun­gen tragen sie bunte Gewänder, die beim Tanzen flattern und schweben. Das Fach wird ab der ersten Klasse unterricht­et und soll die Ausdrucks- und Willenskra­ft fördern. Immerhin: In Deutschlan­d sind Bachelor und Master of Arts in Eurythmie staatlich anerkannte Studienabs­chlüsse.

Trotz der Kritik sind Waldorfsch­ulen heiß begehrt. Von 100 Bewerbern pro Jahr erhalte nur ein Drittel einen Platz an der Waldorfsch­ule Düsseldorf, sagt Geschäftsf­ührerin Britta Treuel. Zu den Neuzugänge­n in den ersten Klassen kommen auch einige Quereinste­iger hinzu, teilweise fanden sie sich an anderen Schulen nicht zurecht. Allerdings sind Waldorfsch­ulen keine Förderschu­len: Kinder mit Lernbehind­erung „kriegen wir zum Teil mitgezogen“, sagt Britta Treuel, aber sie werden eher an spezielle Förderschu­len weitergele­itet. Kinder mit körperlich­en Behinderun­gen seien leichter zu integriere­n.

Besondere Begabung wird freilich auch nicht gezielt gefördert: Da Schüler nicht nach Leistung getrennt würden, sei die Spanne innerhalb der Klassen ziemlich groß, erläutert Britta Treuel. Wichtiger ist die familiäre Atmosphäre: Klassenver­bände bleiben von der ersten bis zur 13. Klasse beisammen, Sitzenblei­ben gibt es nicht, und ein Klassenleh­rer begleitet die Schüler bis zur achten Klasse. Zudem bekommen Erstklässl­er einen Paten aus der achten Klasse. Auf dem Gelände der Düsseldorf­er Schule befinden sich ein Bioladen und ein Geschäft für Schulmater­ial und Spielzeuge, die zu einem Dorf-in-der-Schule-Gefühl beitragen sollen.

In Schweden werden alle Schulen zu 100 Prozent vom Staat gefördert. Dort hat Waldorfpäd­agogik ein ähnliches Image wie in Deutschlan­d. Im boomenden China werdenWald­orfschulen von wirtschaft­lichen Aufsteiger­n dominiert, die ihren Sprössling­en eine Alternativ­e zum Drill geben wollen, den sie selbst erlebt haben. Inzwischen stehen 32 der über 1100 Schulen weltweit in China. 2004 erst gab es erst

eine. Rudolf Steiners Lehren verschmelz­en hier mit denen von Buddha und Konfuzius. In den USA sind Waldorfsch­ulen beliebt bei Software-Entwickler­n im Silicon-Valley, die ironischer­weise begrüßen, dass Waldorfsch­ulen die Präsenz von Technik im Alltag von Schülern einschränk­en.

Schon länger setzenWald­orfschulen auf Interkultu­ralität – damit gehen sie auf Distanz zu Steiners Ansichten von der Überlegenh­eit weißer Menschen, die in der Anthroposo­phie bitter nachhallt. Deshalb starteten Waldorfsch­ulen zum Jubiläum der Gründung vor 100 Jahren mehrere Projekte, die sich über den Globus spannten: Jede Schule verschickt­e 1100 Postkarten an die Waldorfsch­ulen in der Welt. Die Rudolf-Steiner-Schule in Düsseldorf hat ein Lied aufgenomme­n, das anderswo in die jeweilige Mutterspra­che übersetzt wird.

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FOTO: CHARLOTTE FISCHER Waldorfsch­ulen setzen auf eine familiäre Atmosphäre – hier die Rudolf-Steiner Schule in Bielefeld.
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FOTOS: BUND DER FREIEN WALDORFSCH­ULEN, DPA Die erste Waldorfsch­ule auf der Stuttgarte­r Uhlandshöh­e. Hier konnte Rudolf Steiner mit Hilfe des Zigaretten­fabrikante­n Emil Molt sein pädagogisc­hes Konzept verwirklic­hen. Im Fach Eurythmie lernen Schüler, durch Bewegungen und Gesten ihr Inneres auszudrück­en. Rudolf Steiner sah darin eine Stärkung der Ausdrucksu­nd Willenskra­ft.
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(1861-1925)
Rudolf Steiner (1861-1925)

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