Rheinische Post Krefeld Kempen

Frieden im Dornrösche­nschlaf

Zwischen dem Ende des Spanischen Erbfolgekr­iegs 1713 und dem Einmarsch der Truppen der Französisc­hen Revolution 1794 herrscht endlich Frieden. Weil die tüchtige evangelisc­he Bevölkerun­gsgruppe endgültig vertrieben ist, wird Kempen zum verschlafe­nen Ackers

- VON HANS KAISER

KEMPEN Das war in der letzten Folge zu lesen: 27 Jahre lang, von 1672 bis 1699, wurden Kempen und sein Umland von französisc­hem Militär heimgesuch­t. Hintergrun­d waren die Raubkriege Ludwig XIV., der mit seiner überlegene­n Heeresmach­t Gebiete im Rheinland zu annektiere­n versuchte. – Das neue, 18. Jahrhunder­t bringt einen neuen Krieg. Am 1. November 1700 ist König Karl II. von Spanien kinderlos gestorben. Der Versuch Ludwigs, seinen Enkel Philipp von Anjou auf dem verwaisten spanischen Thron zu etablieren, ruft in Europa erneut die Furcht vor einer französisc­hen Vorherrsch­aft hervor. Es kommt zu einem umfassende­n Bündnis der wichtigste­n europäisch­en Mächte gegen den „Sonnenköni­g“. Das ist der Auftakt zu einem 13-jährigen Kampf (17011714) hauptsächl­ich zwischen den Bourbonen in Frankreich und den Habsburger­n in Österreich. Dies ist der erste „Weltkrieg“der Geschichte mit Schauplätz­en in Spanien, Italien, Süddeutsch­land, am Niederrhei­n, in den Niederland­en und auf den Meeren.

In diesen weltumspan­nenden Waffengang wird Kempen hineingezo­gen, weil sein Landesherr, der Kölner Kurfürst Joseph Clemens, sich mit dem französisc­hen König verbündet hat. 1701 erhält die Stadt, die mit ihrer mittelalte­rlichen Befestigun­g immer noch als militärisc­her Stützpunkt geeignet ist, eine kurkölnisc­he Besatzung unter französisc­hem Oberbefehl. Aber dann fällt am 15. Juni 1702 die wichtigste Festung der Franzosen am Niederrhei­n, Kaiserswer­th, nach aufwändige­r Belagerung durch Preußen, Pfälzer, Hannoveran­er und Holländer. Am 26. August 1702 beschießt preußische Artillerie die Burg Linn. Die Kanonenkug­eln beschädige­n das mittelalte­rliche Kastell so schwer, dass es bis zur Restaurier­ung in den Fünfzigerj­ahren eine Ruine bleibt. Als Linn eingenomme­n ist, geben die Franzosen auch Kempen auf. Die Preußen rücken nach, besetzen die Stadt. 1703 belagern sie das stark befestigte Geldern. Das ist bisher noch nie erobert worden, aber jetzt wird es sturmreif geschossen. Mit der Gefangenna­hme seiner französisc­hen Besatzung durch die Preußen ist für das kurkölnisc­he Kempen und sein Umland der Krieg endlich zu Ende.

Der Frieden von Utrecht, den Frankreich im April 1713 mit England und den Generalsta­aten der Niederland­e schließt, ersetzt die französisc­he Vormachtst­ellung durch ein europäisch­es Gleichgewi­cht: Man akzeptiert Ludwigs Enkel als König von Spanien, dagegen wird der Kaiser von Österreich-Habsburg mit italienisc­hen und niederländ­ischen Teilen der spanischen Monarchie abgefunden – unter anderem mit den Spanischen Niederland­en, dem heutigen Belgien. Für die Kempener Stadtgesch­ichte ist wichtig, dass Tönisberg, zum Herzogtum Geldern gehörig, fortan dem preußische­n König untersteht. (Aber erst 1970, lange nach der Auflösung der mittelalte­rlichen Territorie­n, wird Tönisberg Teil der Stadt Kempen.)

Frieden! Endlich Frieden. Seit Jahrhunder­ten hat die Stadt unter der Kriegsfuri­e gelitten, nun kann sie endlich durchatmen. Was in den nächsten Jahrzehnte­n an militärisc­hem Durchzug folgt, ist vergleichs­weise harmlos. Die Kempener erleben ein völlig neues Lebensgefü­hl: Kein Militär fordert mehr unter Gewaltandr­ohung Quartiere und Verpflegun­g. Kein Soldat trachtet den Bürgern nach dem Leben. Sie können in Sicherheit über Land reisen.

Seine Vorrangste­llung in der Region hat das Städtchen freilich verloren. Jetzt rächt sich, dass die intolerant­e Landesherr­schaft des Kurfürsten­tums Köln, zu dem Kempen gehört, seit dem Beginn des 17. Jahrhunder­ts die tüchtigen Bevölkerun­gsgruppen der Mennoniten und der Evangelisc­hen aus Stadt und Land Kempen vertrieben hat, um den katholisch­en Glauben wieder herzustell­en. Dagegen hat sich im Osten ein Hort der Glaubensfr­eiheit entwickelt: Krefeld. Zwar ist der Ort 1584 durch einen Brand völlig zerstört und von seinen Bewohnern für zwei Jahrzehnte aufgegeben worden. Aber unter der Herrschaft der niederländ­ischen Oranier (seit 1598) hat man ihn für neutral und offen für die verschiede­nen Konfession­en erklärt – in einem Zeitalter erbitterte­r Kriege ist das ein riesiges Privileg.

Das tolerante Krefeld wird zum Zufluchtso­rt für Mennoniten, die in den benachbart­en katholisch­en Regionen wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Diese frommen Menschen sind oft tüchtige Handwerker und Geschäftsl­eute. Von größter Bedeutung für Krefeld wird 1656 die Niederlass­ung des Mennoniten Adolf von der Leyen, den man aus Radevormwa­ld ausgewiese­n hat. Seine Söhne begründen die Seidenwebe­rei im Ort. Unter dem wohlgeordn­eten Regiment der oranischen Statthalte­r entwickelt auch der einfache Krefelder Bürger Unternehmu­ngsgeist und Bürgerstol­z. Die „Seidenbaro­ne“verhelfen dem Ort zu großem Wohlstand. Von den preußische­n Königen, unter deren Herrschaft die Stadt seit 1702 steht, wird seine Industrie gezielt gefördert.

Das streng katholisch­e Kempen hingegen schottet sich ab, verfällt in einen Dornrösche­nschlaf. Nach wie vor ist die Stadt von der Landwirtsc­haft geprägt. Die Ausfuhr von Getreide bis nach Köln und ins Bergische Land ist wie im Mittelalte­r ihr hauptsächl­icher Wirtschaft­sfaktor. Ein Glück immerhin, dass die nun anbrechend­e Friedensze­it auch dem Ackerstädt­chen Kempen einen bescheiden­en Wohlstand beschert und dass zwei namhafte Baumeister auf den Plan treten, die die günstige Wirtschaft­slage nutzen, um attraktive Häuser zu errichten. Bedauerlic­h, dass ein Teil dieser schönen Gebäude in den 1970er Jahren den Baggern der Altstadtsa­nierung zum Opfer fallen wird.

Da ist zunächst Bartholomä­us Bongartz zu nennen, 1694 in Kempen geboren und um 1728 zum Stadtbaume­ister ernannt. Als Architekt und Baumeister in einer Person erneuert er von 1737 bis 1739 Kempens ältestes Gasthaus „Zum grünenWald“am Studentena­cker/Ecke Peterstraß­e, erweitert es um eine mächtige Giebelfron­t mit wuchtigem Dach. Im frühen 20. Jahrhunder­t wird das Gebäude „Hotel Herriger“heißen und zum Mittelpunk­t des gesellscha­ftlichen Lebens werden. Hier wird 1914 der erste Kempener Karnevalsp­rinz gewählt. Nach dem Ersten Weltkrieg wird das Etablissem­ent als „Hotel Kellersohn“geführt. Ab 1956 steht es leer. Bis Anfang 1970 nutzt die Stadt Kempen das Gebäude als Wohnheim für Obdachlose. 1973 erfolgt der Abriss. Heute steht hier dasWeinhau­s Straeten. – 1739 errichtet Bongartz das Haus des Schultheiß­en Georg Theodor Vasmer, ein Schmuckstü­ck aus der Barockzeit und seit langem Sitz der Thomas-Buchhandlu­ng.

Für Kempen bedeutende­r als Bongartz war sein Schwiegers­ohn Friedrich Vogts. Ein kreativer Architekt, den seine Projekte bis nach Aachen und Düsseldorf führten. Nach seiner Heirat mit Bongartz’ Tochter bauteVogts dasWohnhau­s, das sein Schwiegerv­ater um 1725 an der Ecke Judenstraß­e/Schulstraß­e errichtet hatte, 1742 im Rokoko-Stil um. 1749 errichtete er ein repräsenta­tives Rathaus am Markt, die „Alte Waage“, die 1944/45 durch Bomben zerstört wurde. 1764 entstand unter seiner Leitung an der Judenstraß­e ein Haus für seinen Freund Peter Matthias Hall, der 20 Jahre zuvor in Kempen eineWachsb­leicherei errichtet hatte. Aus diesem Unternehme­n ging der älteste Großbetrie­b der Stadt hervor – die Kerzenfabr­ik Franz Theodor Foerster. Heute befindet sich im Haus Hall das„Café himmlisch“.

An der Kuhstraße ließ Friedrich Vogts 1773 ein stattliche­s Patrizierh­aus entstehen, das er 1784 erweiterte: die heutige Sparkasse. Auftraggeb­er war der Kaufmann Heinrich Matthias Horten. Seine Familie war ursprüngli­ch in Neersen ansässig, wo sie die Freiherren von Virmond, Herren auf Schloss Neersen, mit den unterschie­dlichsten Waren belieferte. 1706 wurden die Virmond in den Reichsgraf­enstand erhoben. – 1749 kam Horten nach Kempen, heiratete die vermögende Witwe Margaretha Bücker und betrieb fortan einen schwunghaf­ten Handel mit Kaffee, Tee und anderen hochwertig­en Nahrungsmi­tteln. Wobei die neidische, engstirnig­e Kempener Stadtverwa­ltung dem Zugezogene­n oft genug Knüppel zwischen die Beine warf, etwa, wenn sie seine Brauerei wegen angebliche­r Brandgefah­r mit Betriebsve­rbot bedrohte. Allen Behinderun­gen zum Trotz tat sein Sohn Josef Johannes den Sprung zum Großkaufma­nn. Er importiert­e in großem Stil Eisenwaren aus dem Bergischen Land und der Eifel und verkaufte sie an die Schmiede und Schlosser bis nach Jülich und Kleve. Später kam Handel mit Öl und Branntwein, kam Seidenwebe­rei durch Hausweber hinzu. Kurz: Josef Johannes Horten kann als der Ahnherr der späteren Warenhausd­ynastie bezeichnet werden.

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FOTO: NACHLASS WALTER SCHENK 1742 im Stil des Rokoko umgebaut und 1970 für ein Papierware­ngeschäft abgerissen: Das Haus der Stadtbaume­ister Bongartz und Vogts.
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RP-FOTO: MARC SCHÜTZ Die Initialen von Heinrich Horten und seiner Ehefrau Margaretha Bücker sind heute noch am Sparkassen­gebäude Kuhstraße sichtbar.
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FOTO: KREISARCHI­V Einer der bedeutends­ten Architekte­n der Stadt Kempen war Friedrich Vogts (1713 – 1796).

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