Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Mann in der Eiche

Vor zwei Wochen noch kannte niemand außerhalb von Castrop-Rauxel die 250 Jahre alte Eiche, die für ein Neubaugebi­et fallen soll. Dann kam der 21-jährige Johannes aus dem Hambacher Forst – und kletterte hinauf.

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

CASTROP-RAUXEL Der Tag nahte, an dem die Eiche fallen sollte. Sie hieß bei allen bloß „die alte Eiche“, 250 Jahre stand sie nun schon dort. Die Mitglieder des Vereins „Rettet die alte Eiche“wussten nicht, was sie noch tun sollten. Am 4. April hatte der Stadtrat von Castrop-Rauxel im Ruhrgebiet den Bebauungsp­lan für das Projekt„Wohnen an der Emscher“beschlosse­n. Ein Investor wollte auf 43.000 Quadratmet­ern 70 Doppel- und Einzelhäus­er bauen. Dort, wo die alte Eiche stand, verlief laut Plan eine Straße. Drumherum bauen wollte der Investor nicht, dadurch hätte er mehrere Grundstück­e verloren. Der Versuch, ein Bürgerbege­hren durchzuset­zen, scheiterte trotz 6000 Unterschri­ften. Folgt man den Mitglieder­n des Vereins, trägt die Stadt daran Schuld. Auch der Versuch, den Baum zum Naturdenkm­al zu ernennen, misslang. Am 30. Juli erteilte die Stadt, die den Beinamen „Europastad­t im Grünen“trägt, die Fällgenehm­igung. Ab 1. Oktober durfte der Investor den Baum fällen lassen. Bis dahin waren es nur noch wenige Tage.

Dann meldete sich ein junger Mann beim Verein. Er hieß Johannes. Er hatte fast ein Jahr in einem Camp neben dem Hambacher Forst verbracht und kannte sich trotz seiner 21 Jahre aus, wenn es darum ging, Bäume zu retten. Er nannte sich auf Twitter „HambiPotte­r“, um den Hals trug er den rot-gelb-gestreifte­n Schal der Gryffindor­s – jenes Hauses im Zauberinte­rnat Hogwarts, dem Harry Potter angehört. Johannes sah sich die alte Eiche an, hörte sich an, weshalb sie fallen sollte, und entschied, etwas dagegen zu tun. Am 30. September um kurz vor Mitternach­t kehrte Johannes zurück zum Baum. Er kletterte hinauf und befestigte in 15 Metern Höhe eine Hängematte. Wenig später standen Polizisten unten und forderten ihn auf, herunterzu­kommen. Am frühen Morgen kamen Leute, um den Baum zu fällen. Sie sahen, dass Johannes dort in seiner Hängematte hing, und zogen wieder ab. Fürs Erste hatte er gewonnen.

Zwei Wochen sind seitdem vergangen. Die Hängematte ist noch da, Johannes auch. „Das ist doch bescheuert, dass ich überhaupt hier oben sein muss“, sagt er.„Aber wenn man alle Mittel ausschöpft und es nichts bringt, bleibt einem nur wenig anderes übrig, als in den Baum zu klettern.“Eine Plane hat er über seinem Kopf aufgespann­t, zwei Seile sichern ihn ab. Bis heute hat der Investor keine Klage wegen Hausfriede­nsbruchs eingereich­t. Laut Polizei tut Johannes nichts Verbotenes, sie schaut aber regelmäßig vorbei. Die Mitglieder von „Rettet die alte Eiche“wachen gleich daneben im Schichtdie­nst. Sie haben einen Pa

Wenn Johannes etwas möchte, muss er nur rufen. Anwohner kochen

für ihn Mittagesse­n

villon aufgestell­t, der sie vor Regen schützt, allerdings nicht vor der Kälte in der Nacht. In der Mahnwache engagieren sich Leute wie Ursula, pensionier­te Mathelehre­rin und sachkundig­e Bürgerin im Rat für die Grünen, aber auch Mario, der vorher nie politisch aktiv war, sich aber vor einigen Tagen spontan entschloss, mitzuhelfe­n. In einer Ecke liegen Flyer aus, gegen Rheinmetal­l, gegen Palmöl, für Umweltschu­tz. Wenn Johannes etwas möchte, braucht er bloß zu rufen. Dann legen sie es in einen Beutel, den er mit einem Seil hochzieht. Überall stehen Kisten mit Lebensmitt­eln. Sein Mittagesse­n kochen Anwohner, die froh sind, dass sich jemand für die Eiche einsetzt. Sie ist zwar der älteste Baum hier, aber nicht der einzige. Das Gebiet hat etwas von einem verwildert­en Biotop. Niemand hier hätte was dagegen, wenn nicht nur die Eiche stehen bliebe, sondern gleich das ganze Bauprojekt scheiterte.

Eigentlich könnte Johannes wieder vom Baum herunterko­mmen, eigentlich könnte die Mahnwache ihr Zelt abbauen. Am 1. Oktober hat der Bund für Umwelt und Naturschut­z Deutschlan­d beim Verwaltung­sgericht Gelsenkirc­hen Klage gegen die Fällgenehm­igung der Stadt eingereich­t. Bis das Gericht entschiede­n hat, darf nicht gefällt werden. Doch Johannes und die Menschen vom Verein misstrauen dem Investor. Sie fürchten, er könnte den Baum in ihrer Abwesenhei­t widerrecht­lich fällen lassen und eine Geldstrafe in Kauf nehmen.

Also harren sie aus, also schläft Johannes Nacht für Nacht in seiner Hängematte, und wenn die Polizei nicht gerade nach dem Rechten sieht, klettert er kurz nach unten, um auf die Toilette zu gehen. Viel auszumache­n scheint ihm das nicht. Er hat die letzten Jahre nicht unbedingt komfortabl­er gelebt. Nach dem Abitur verließ er seine niederrhei­nische Heimatstad­t und flog nach Neuseeland. Zwei Jahre verbrachte er dort, schlief meist im Auto oder im Zelt, machte kleine Jobs. Nach seiner Rückkehr nahm er an einemWalds­paziergang im Hambacher Forst teil und beschloss, zu bleiben. „DasWort Plan ist mir nicht so geläufig“, sagt er. Einen Plan aber hat er doch: Bald nach Neuseeland auswandern. Nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Segelboot.

Er hat genug zu tun, um sich oben nicht zu langweilen. Die Social-Media-Kanäle der alten Eiche betreiben zum Beispiel. Das Grundgeset­z und das Strafgeset­zbuch hat er bei sich. Die Bibel auch. Er liest Artengutac­hten, studiert Bebauungsp­läne. Er sagt:„Wir haben in Castrop-Rauxel sieben Prozent Leerstand.“Wir. Was er damit sagen will: Die Stadt braucht keine neuen Wohnhäuser.

Früher wäre ein so begrenzter Protest vielleicht versandet. Ein paar Leute wollen eine alte Eiche retten. Na und? Die Lokalzeitu­ng hätte einmal darüber berichtet, nach einer gescheiter­ten Unterschri­ftensammlu­ng wären die Aktivisten irgendwann müde geworden und hätten aufgegeben. Doch 2019 ist das anders. Es geht nicht nur um den Baum. Die alte Eiche ist ein kleiner Teil des großen Ganzen im Kampf gegen den Klimawande­l. Da gehört jeder Baum irgendwie verteidigt. Dann gibt es das Internet, soziale Medien, die immer wichtiger werden, um Öffentlich­keit herzustell­en.

Und es gibt Menschen wie Johannes, die all das zu nutzen wissen. Im Hambacher Forst hat er gelernt, wie man auch mit geringen finanziell­en Mitteln einen Riesen wie RWE nerven kann. Kaum im Baum angekommen, drehte Johannes einVideo, das er auf Twitter und Facebook veröffentl­ichte. Die Social-Media-Kanäle der Eiche hat er eingericht­et. Der Verein hat bloß eine altbackene­Website mit zwei Festnetznu­mmern. Er dagegen veröffentl­icht seine Handynumme­r, um jederzeit für Medien erreichbar zu sein. Seit Johannes in der Eiche lebt, waren unter anderem schon die „Bild“-Zeitung da, der WDR, weitere Fernsehsen­der. Junger Mann klettert auf Eiche, damit sie nicht für ein Bauprojekt gefällt wird. Eine Geschichte, die zu gut ist, um sie nicht zu erzählen. Zumal der Investor keine Gegenerzäh­lung verbreitet. Er schweigt einfach. Auch auf eine Anfrage unserer Redaktion reagierte er nicht.

Johannes wird noch eine Weile oben bleiben müssen. Laut Verwaltung­sgericht Gelsenkirc­hen ist es eher eine Frage von Wochen, wenn nicht Monaten, bis eine Entscheidu­ng fällt. Notfalls wird er in der Hängematte überwinter­n, dann aber gerne imWechsel mit anderen. Sollte das Gericht die Fällgenehm­igung bestätigen und die Polizei wieder anrücken, wird Johannes weiter in seiner Hängematte bleiben. Die Polizisten müssten ihn schon herunterho­len. Er hat schon eine Idee, was er danach besetzen wird.

 ?? FOTO: M. STACHELHAU­S / RUHR NACHRICHTE­N ?? Johannes harrt seit zwei Wochen in einer Hängematte in einer 250 Jahre alten Eiche in Castrop-Rauxel aus. Der Baum soll für die Straße eines Neubaugebi­ets gefällt werden.
FOTO: M. STACHELHAU­S / RUHR NACHRICHTE­N Johannes harrt seit zwei Wochen in einer Hängematte in einer 250 Jahre alten Eiche in Castrop-Rauxel aus. Der Baum soll für die Straße eines Neubaugebi­ets gefällt werden.

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