Rheinische Post Krefeld Kempen

Am Ground Zero des Brexit

Ein ungeregelt­er britischer EU-Austritt wird vor allem wegen seiner wirtschaft­lichen Folgen gefürchtet. In Nordirland geht es um viel mehr: Hier steht ein brüchiger Frieden auf dem Spiel.

- VON MATTHIAS BEERMANN

BELFAST Gedämpft sickert das Licht durch die hohen Buntglasfe­nster in den großen Ratssaal der Belfast City Hall. An den Wänden des 1906 fertiggest­ellten neobarocke­n Baus hängen düstere Ölporträts britischer­Würdenträg­er, allesamt stramme Protestant­en, die hier einst die Macht ausübten. „Ich sage Ihnen, die spuken noch heute hier herum“, ätzt Séanna Walsh. Dass er, der Katholik aus einem Belfaster Arbeitervi­ertel, heute an diesem Ort sitzt – es wäre noch vor zwei Jahrzehnte­n unvorstell­bar gewesen.

Walsh, grauer Anzug, graue Haare, ist Stadtrat. Insgesamt ein Drittel seines Lebens hat der 62-Jährige hinter Gittern verbracht. Schon als Jugendlich­er hatte sich Walsh der katholisch­en Untergrund­organisati­on IRA angeschlos­sen. 1973, da war er gerade 16, wurde er das erste Mal verhaftet und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Zwei weitere Haftstrafe­n folgten. Erst 1998, nach dem Karfreitag-Friedensab­kommen, kam Walsh im Rahmen einer Amnestie frei. Seit 2015 sitzt er als Abgeordnet­er der katholisch-republikan­ischen Sinn Féin im Stadtrat von Belfast. „Ich bereue nichts“, sagt Walsh entschiede­n.„Wir haben damals gegen die britische Besatzungs­armee gekämpft.“

„Damals“, das war die Zeit der „Troubles“, wie die Iren die blutigen Jahre von 1969 bis 1998 nennen, als die Auseinande­rsetzungen zwischen den Bevölkerun­gsgruppen in Nordirland das Ausmaß eines Bürgerkrie­gs anzunehmen drohten. 3700 Tote hat der Konflikt gefordert, mehr als 40.000 Menschen wurden verletzt. Seit 20 Jahren schweigen die Waffen, eine ganze Generation durfte seither ohne tägliche Gewalt aufwachsen, und Männer wie Séanna Walsh konnten ein zweites, ein friedliche­s Leben beginnen. Aber in den Köpfen vieler Menschen ist das Geschehene längst noch nicht verarbeite­t. In Nordirland mit seinen 1,9 Millionen Einwohnern herrscht nur ein kalter Frieden. Protestant­en und Katholiken leben nicht mit-, sondern nebeneinan­der. Und das ist keine Frage des Alters.

Ein Jugendzent­rum in Belfast, an den Wänden hängen selbstgema­lte Plakate, auf Regalen türmen sich Pappkarton­s mit Bastelmate­rial: Rebecca Coggles ist 16 Jahre alt, aufgewachs­en in einem protestant­ischen Viertel. „Aber meine Eltern haben mir erlaubt, hierher zu kommen.“Im vergangene­n Jahr nahm das Mädchen an einem von der EU mitfinanzi­erten Förderprog­ramm für Schulabgän­ger teil.„Und da hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Kontakt zu Katholiken“, sagt Rebecca. „Ich war echt erstaunt, dass die ja irgendwie genauso sind wie wir.“Rebecca ist kein Einzelfall. Immer noch wachsen die meisten Nordiren in einer geteilten Gesellscha­ft auf, und das wird wohl auch so bleiben, solange sich am segregiert­en Schulsyste­m nichts ändert, in dem Protestant­en und Katholiken getrennt bleiben. Nur rund zehn Prozent der Kinder besuchen eine gemischte Schule.

Im Alltag werden weiter die Rituale der Abgrenzung gepflegt, je bescheiden­er die Lebensumst­ände der Menschen, desto inbrünstig­er. Zum Beispiel in den Annadale Flats, einer Sozialwohn­siedlung östlich des Lagan, der Belfast durchfließ­t. Auf jedem der Gebäude bauscht sich ein Union Jack im Wind, einige Mieter haben zum Zeichen ihrer unionistis­chen Gesinnung obendrein noch eine Ulster-Flagge aus dem Fenster gehängt.Vor einem derWohnblo­cks vernarbt ein Brandfleck, gut 20 Meter im Durchmesse­r, die saftig grüne Wiese. Hier zünden sie jedes Jahr am 11. Juli einen gewaltigen Scheiterha­ufen aus Paletten an, um den Sieg Wilhelms von Oranien zu feiern, der am Fluss Boyne in Nordirland seinen katholisch­en Widersache­r Jakob II. besiegte. Wohlgemerk­t, das war 1690.

Auch die jüngere Vergangenh­eit will einfach nicht vergehen. Polizeipos­ten in Nordirland wirken auch heute noch wie schwer befestigte militärisc­he Außenposte­n in Afghanista­n, umgeben von soliden Betonmauer­n und zwölf Meter hohen Drahtzäune­n, die die Beamten vor Steinwürfe­n oder Brandsätze­n schützen sollen. Überall in der Stadt stehen Trennmauer­n, man nennt sie, halb ironisch, halb ernsthaft, „Peace Walls“. Eine davon verläuft zwischen zwei Parallelst­raßen, die einst besonders berüchtigt waren, die protestant­ische Shankill und die katholisch­e Falls Road. Die meterhohe Betonbarri­ere, die von einem Maschendra­htzaun gekrönt wird, ist an vielen Stellen bunt bemalt mit Graffiti, die die angebliche­n Heldentate­n der jeweiligen Seite feiern oder Gerechtigk­eit für die Opfer der Gewalt fordern. Heute fahren Touristen hierher, um diese „Murals“zu bestaunen, aber die Mauer erfüllt weiter ihren ursprüngli­chen Zweck. Tagsüber kann man beliebig von der einen auf die andere Seite wechseln, doch nachts werden die Tore an den Übergängen fest verschloss­en.

„Es ist“, betont James Begley, einer der Sozialarbe­iter im Jugendzent­rum, „in Wirklichke­it gar kein religiöser Konflikt. Es geht eigentlich um Politik, um die Auseinande­rsetzung zwischen zwei Lagern.“Viele republikan­isch gesinnte nordirisch­e Katholiken träumen weiter von einer Wiedervere­inigung mit dem Süden. Die meisten Protestant­en sind strikt dagegen, wollen die Zugehörigk­eit zum Vereinigte­n Königreich auf gar keinen Fall aufgeben. Das mit dem Karfreitag­sabkommen geschaffen­e nordirisch­e Regionalpa­rlament ist seit einem heftigen Streit zwischen Protestant­en und Katholiken 2017 suspendier­t, die Regionalre­gierung handlungsu­nfähig. Und nun wird dieser nur oberflächl­ich befriedete, aber ungelöste Interessen­konflikt auch noch aufs Neue angeheizt – durch den Brexit.

Er selbst, sagt Stadtrat Walsh, habe 2016 beim Referendum gegen den EU-Austritt gestimmt wie im Übrigen knapp 56 Prozent der Nordiren. „Aber ich habe insgeheim gehofft, dass die Briten dafür stimmen“, fügt er hinzu. Aus politische­m Kalkül: Walsh ist fest davon überzeugt, dass durch den Brexit die Aussichten auf eine Wiedervere­inigung der irischen Insel erheblich gestiegen sind. „Das spielt uns ganz klar in die Hände“, sagt er. Am liebsten würde Walsh schon am Tag nach dem Ausscheide­n Großbritan­niens aus der EU das im Karfreitag­sabkommen vorgesehen­e Referendum über eine Fusion von Nord und Süd durchführe­n lassen. „Es wäre ein Prozess, der danach vielleicht noch zehn oder 15 Jahre dauern könnte“, erklärt der SinnFéin-Mann. Das sei kein Problem. Wichtig sei nur, jetzt die Gunst der Stunde zu nutzen.

So viel Positives wieWalsh können die meisten Nordiren dem drohenden Brexit freilich nicht abgewinnen. Denn es ist völlig unklar, wie der britische EU-Austritt vollzogen werden könnte, ohne dass auf der irischen Insel wieder eine harte Grenze mit Zollkontro­llen entsteht. Um das zu verhindern, hatte die EU die sogenannte Backstop-Regelung in den mühsam ausgehande­lten Austrittsv­ertrag aufnehmen lassen: Solange zwischen der EU und Großbritan­nien kein Freihandel­sabkommen vereinbart ist, sollte Nordirland in der Zollunion und im EU-Binnenmark­t verbleiben. Doch der Brexit-Vertrag fiel im britischen Unterhaus mehrfach durch – vor allem auch, weil die DUP, die größte protestant­ische Partei in Nordirland, sich strikt weigerte, die Backstop-Klausel zu akzeptiere­n.

Die Basis der DUP habe mehrheitli­ch für den EU-Austritt gestimmt, um sich noch stärker an das Königreich zu klammern, erklärt der Journalist Sam McBride, der für die unionistis­ch gesinnte Zeitung „The News Letter“arbeitet. „Viele DUP-Wähler haben sich für den Brexit entschiede­n, obwohl sie genau wussten, dass er für sie wohl wirtschaft­liche Nachteile bringen würde. Es war eine ideologisc­he, keine rationale Wahl.“Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass der katholisch­e Bevölkerun­gsanteil Nordirland­s in den vergangene­n Jahrzehnte­n beständig gewachsen ist. Schätzunge­n zufolge könnten die Protestant­en schon Mitte des kommenden Jahrzehnts zur Minderheit werden.

Trotzdem, eine neue Grenze auf der irischen Insel wünscht sich niemand, weder Katholiken noch Protestant­en. Um die alte Demarkatio­nslinie, die 1922 gezogen wurde, heute noch zu erkennen, muss man schon sehr genau hinschauen: Ein kleiner Unterschie­d in der Körnung des Straßenasp­halts, andere Fahrbahnma­rkierungen – es sind nur winzige Details, die verraten, wo einst die Trennung zwischen der Republik Irland im Süden und Nordirland verlief. Stacheldra­ht, Mauern, Bunker, die die britischen Truppen während der „Troubles“an vielen Stellen der Grenze errichtet hatten, sie sind verschwund­en. Heute haden drohenden EU-Austritt vorbereite­t. Es ist, als steckten sie den Kopf in den Sand. Viele Firmen, so räumt die Brexit-Beauftragt­e von Intertrade, Deirdre Maguire, ein, rechneten sich offenbar keine Überlebens­chance aus, sollte es zu einem harten Brexit kommen.

„Keine Jobs, keine Hoffnung“, sagt Colin Hanna, Wirtschaft­sförderer in Newry, so sei es früher in seiner Stadt gewesen, die nach der Trennung von Nord und Süd 1922 von einem blühenden Handelszen­trum zu einem Armenhaus verfallen war. 30 Prozent Arbeitslos­e gab es hier in den 70ern; heute sind es nur noch zwei Prozent. „Das steht jetzt alles auf dem Spiel“, warnt Hanna. Nirgendwo sonst, davon ist er überzeugt, würde ein EU-Austritt ohne Abkommen so brutale Auswirkung­en haben wie in seiner Stadt. „Wir sind hier buchstäbli­ch am Ground Zero des Brexit.“

Und alle wissen: Es steht noch viel mehr auf dem Spiel als nur Jobs und Wohlstand. Allein in diesem Jahr wurden in Nordirland acht versuchte Anschläge auf Polizisten registrier­t, mehrere Bomben konnten gerade noch rechtzeiti­g entschärft werden oder explodiert­en, glückliche­rweise ohne größeren Schaden anzurichte­n. Doch im April erschossen Angehörige der Splittergr­uppe „Neue IRA“im nordirisch­en Londonderr­y am Rande schwerer Auseinande­rsetzungen von Demonstran­ten mit der Polizei versehentl­ich eine Journalist­in. „Wenn wir die Grenzfrage mit Nordirland bei den Brexit-Verhandlun­gen nicht richtig lösen, werden Menschen sterben“, warnte unlängst eindringli­ch der ehemalige EU-Kommissar Chris Patten, der vor 40 Jahren als britischer Staatssekr­etär für Nordirland Zeuge der Gewalt wurde.

Walsh, der Ex-IRA-Kämpfer, hat der Gewalt abgeschwor­en. Aber seine Kontakte in den Untergrund sind immer noch gut genug, um ihn mit Informatio­nen zu versorgen, die ihm Sorge bereiten.„Diese Kerle haben keine klaren politische­n Ziele wie wir damals“, sagt er, „die haben einfach nur Spaß an der Gewalt. Und der Brexit liefert ihnen jetzt einen willkommen­enVorwand dafür.“

Auch draußen auf dem Land, wo Irland so friedlich, so grün und so hügelig ist wie in einer Kerrygold-Reklame, haben sie die schlimmen Jahre nicht vergessen. Und sie fürchten ihre Rückkehr.„Jede Familie hier schleppt bis heute schmerzhaf­te Erinnerung­en aus dieser Zeit mit sich herum“, sagt Peadar Carpenter. Der pensionier­te irische Diplomat, der in der Gegend zwischen Newry und dem irischen Dorf Omeath aufgewachs­en ist, kann sie alle aufzählen, die blutigen Wegmarken des Konflikts. Den Warrenpoin­t-Anschlag etwa, bei dem 1979 eine britische Militärkol­onne in einen IRA-Hinterhalt geriet und 18 Soldaten starben. Oder das Kingsmill-Road-Massaker, bei dem 1976 elf protestant­ische Arbeiter aus einem Bus gezerrt und förmlich hingericht­et wurden – ein Racheakt für die Ermordung katholisch­er Zivilisten durch eine protestant­ische Miliz am Tag zuvor. Oder den 18. Juni 1994, als in einem Pub in Loughinisl­and sechs Katholiken erschossen wurden, die dort gerade die irische Nationalma­nnschaft bei ihrem WM-Spiel gegen Italien anfeuerten. An manchen Stellen seiner Schilderun­g beginnt Carpenters Stimme zu zittern. „Wir dürfen nicht vergessen, wie schrecklic­h das alles hier war.“

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FOTOS: MATTHIAS BEERMANN Graffiti an einer der „Peace Walls“in einem katholisch­en Viertel von Belfast verherrlic­hen den irischen Unabhängig­keitskampf.
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Mit Plakaten protestier­en Anwohner an der nordirisch­en Grenze gegen die mögliche Rückkehr von Grenzkon trollen.
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Séanna Walsh, Ex-IRA-Kämpfer, ist heute Stadtrat in Belfast.

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