Rheinische Post Krefeld Kempen
Zu viel Demokratie?
MEINUNG
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören zu den größten Errungenschaften der Menschheit. „Mehr Demokratie wagen“, forderte vor 50 Jahren der erste SPD-Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung. Zu Recht, wenn damit mehr bürgerschaftliches Engagement oder Teilhabe gemeint ist. Seit es jedoch in Mode gekommen ist, per Votum der Bürger oder Mitglieder wichtige Einzelfragen der Politik oder Personal- und Koalitionsfragen zu entscheiden, hat sich eine gewisse Lähmung breitgemacht. Fast fünf Monate nahm der Prozess in Anspruch, einen neuen SPD-Vorsitzenden zu finden. SechsWochen lang musste der Finanzminister des wichtigsten EU-Landes, Olaf Scholz, als Kandidat durch 23 Regionalkonferenzen tingeln, um sich der Basis zu stellen. Am Ende verlor er. Seine Position in der Regierung ist geschwächt, obwohl seine Bilanz als Chef der Staatsfinanzen gar nicht zur Beurteilung stand.
Doch ohne die direkte Befragung der Mitglieder oder Bürger geht inzwischen immer weniger in den westlichen Demokratien. Die SPD ist da nur ein Beispiel. Ein ums andere Mal haben französische, niederländische oder irische Wähler die geplante europäische Verfassung oder einzelne EU-Verträge zu Fall gebracht. Oft standen die Gesetzeswerke wie im Fall des Lissabon-Vertrags von 2009 in veränderter Form wieder auf der Tagesordnung. So mussten die Iren zweimal abstimmen, bis der Lissabon-Vertrag endgültig in Kraft trat. Ein Gewinn an Demokratie?
Ein besonders krasses Beispiel, wie direkte Demokratie ein etabliertes und bewährtes politisches System demolieren kann, ist die Abstimmung in Großbritannien um den Verbleib in der EU. Es schien der letzte Ausweg für den konservativen Premierminister David Cameron zu sein, um den Streit in seiner Partei über Europa ein für allemal bei
Die neue erste Hüterin unserer Währung ist ein Mix aus französischer Eleganz und amerikanischem Pragmatismus. Als Christine Lagarde in Frankfurt symbolisch eine überdimensionierte blaue 20-Euro-Banknote mit ihrer Unterschrift versah, bewies die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) Fantasie: Man möge die europäische Erfolgswährung aufgrund der Hintergrundfärbung des Zwanzigers künftig „Blue Bridge“nennen. Das war als Anspielung auf den Dollar und Ausdruck europäischen Selbstbehauptungswillens gegenüber dem „Greenback“zu verstehen, wie die US-Weltwährung genannt wird. zulegen. Doch das Nein der Briten zur EU spaltete daraufhin nicht nur die Tories, sondern das gesamte Land. Seit über drei Jahren paralysiert die Frage, wie Großbritannien die EU verlassen kann, die Nation. Die Reform des Gesundheitssystems, die ungerechte Bildungspolitik oder die Vernachlässigung weiter Teile des Landes spielten nur noch eine Nebenrolle. Man kann das wohl kaum eine größere Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten an den wichtigen Fragen des Landes nennen.
Unter linken und grünen Parteien ist das Referendum besonders beliebt. Sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen musste die Parteibasis von SPD und Grünen über den Koalitionsvertrag mit der CDU abstimmen. Es war am Ende reine Routine – ohne größere Komplikationen. Aber worin bestand der Gewinn an Demokratie?
Nach einer aktuellen Definition des US-Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama liegt das Wesen der westlichen Demokratie nicht so sehr an der Befassung desWahlvolks mit allen möglichen Themen, Vorhaben oder Gesetzen. Es liegt darin, dass die gewählten Politiker am Ende ihrer Amtszeit Rechenschaft ablegen. Dann ist der Wähler am Zug, einem Politik-Paket, das aus Inhalten und Personen besteht, ein neues Mandat zu erteilen.
Das britische System hat trotz aller Unzulänglichkeiten seines Wahlsystems über Jahrhunderte den größten politischen und wirtschaftlichen Krisen getrotzt. Volksabstimmungen waren diesem System wesensfremd. Selbst bei genau umrissenen Fragestellungen wie dem Bau des Bahnhofs Stuttgart 21 bringt eine Entscheidung der Bürger nur bedingt Rechtsfrieden. Nach dem Nein der Wähler zum Ausstieg aus dem Projekt haben die steten Kostensteigerungen und derenVerschleierung durch die Bahnführung die Diskussion um ein zweites Referendum angeheizt.
Die Demokratisierung vieler Entscheidungsprozesse nimmt also nicht nur viel Zeit in Anspruch, sondern trägt
Ohne die direkte Befragung geht inzwischen immer weniger in west
lichen Demokratien