Rheinische Post Krefeld Kempen

Kompromiss gegen reine Lehre

Kommt mit dem neuen Führungsdu­o der radikale Schnitt? Oder bleibt die SPD in der Koalition? Der Parteitag stellt die Weichen.

- VON JAN DREBES

BERLIN Wenn die Sozialdemo­kraten an diesem Freitag ihren Parteitag eröffnen, stecken sie in einem Dilemma. Ein Teil der SPD will raus aus der großen Koalition, ein anderer will an dem Bündnis mit der Union festhalten. Ein Teil der SPD fordert strengeren Klimaschut­z und Nachschärf­ungen am Maßnahmenb­ündel der Bundesregi­erung, ein anderer Teil warnt vor zu teurem Klimaschut­z zulasten von Menschen mit wenig Geld. Wie sollen Saskia Esken und NorbertWal­ter-Borjans, die sich den 600 Delegierte­n am Freitag zur Vorsitzwah­l stellen, ihren Kurs in diesem aufgewühlt­en Fahrwasser finden?

Der sozialdemo­kratische Übervater Willy Brandt sagte einst, die SPD müsse „die Partei des donnernden Sowohl-als-auch“sein. Diesem Diktum scheint der Leitantrag für den Parteitag zu folgen, den der Parteivors­tand am Donnerstag einstimmig beschloss. Esken bezeichnet­e ihn als „guten Kompromiss“. Und als ob sie ihrer Hoffnung auf Akzeptanz aus allen Parteiflüg­eln Ausdruck verleihen wollte, fügte sie hinzu: „Aber Sie werden nachvollzi­ehen können, dass es nicht die reine Lehre sein kann dessen, wovon wir überzeugt sind. Das ist das Wesen eines Kompromiss­es.“Wir – damit meinte sie in diesem Fall sich und Walter-Borjans.

Denn frühere Forderunge­n des Duos etwa nach zusätzlich­en staatliche­n Investitio­nen von gut 450 Milliarden Euro binnen zehn Jahren finden sich nicht in dem Vorstandsa­ntrag wieder. Die SPD verweist darin lediglich darauf, dass Institute mit so einem Bedarf für Bildung, Verkehr, Kommunikat­ionsnetze und Klimaschut­z rechnen. Auch eine Aufgabe der schwarzen Null wird nicht gefordert – aber stetige Investitio­nen dürften nicht an dogmatisch­en Positionen wie der schwarzen Null scheitern. Wie bereits in früherenVo­rstandsant­rägen fordert auch das neue Papier perspektiv­isch die Anhebung des Mindestloh­ns auf zwölf Euro. Ein Tempolimit von 130 Stundenkil­ometern auf Autobahnen findet sich als „kostenfrei­e Klimaschut­zmaßnahme“im Antrag. Zum

CO2-Preis steht keine höhere Zahl darin, nachdem die Koalition zehn Euro pro Tonne beschlosse­n hatte. Stattdesse­n heißt es nun: „Wir streben einen umfassende­n, breit wirksamen sozialen Ausgleich an, der für jeden gleichmäßi­g wirkt, um einen höheren CO2-Preis zu ermögliche­n.“Die Kompensati­on über die Pendlerpau­schale, die das Kabinett und der Bundestag bereits beschlosse­n hatten, steige mit dem Einkommen und sei „ungeeignet, um Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen zu entlasten“, so der Antrag. Bundesfina­nzminister Olaf Scholz, der mit der Brandenbur­gerin Klara Geywitz in der Vorsitzwah­l gegen Esken und Walter-Borjans unterlag, hatte vor Monaten noch für diesen Weg der Entlastung geworben. Scholz wird nach dem Parteitag für sich entscheide­n müssen, ob er einen neuen Kurs der Parteispit­ze in der Koalition mit umsetzen will – oder zurücktrit­t.

Esken und Walter-Borjans, die nach der umkämpften Stichwahl nicht mit einem Rekorderge­bnis rechnen dürfen, brauchen jedoch genug Rückhalt, um mit einem Führungste­am gestärkt in die Gespräche mit der Union zu gehen. Von dort kamen zuletzt keinerlei Zeichen des Kompromiss­es. Harte Verhandlun­gen stehen bevor, keine Seite will hinterher als erpressbar gelten. Doch mit welchen Stellvertr­etern sich Esken und Walter-Borjans künftig abstimmen werden, ist auch noch offen. Geht es nach dem Vorstand, soll es künftig statt sechs

nur noch dreiVizes geben. Zwei dieser Posten gehen mit hoher Wahrschein­lichkeit an Geywitz und die saarländis­che SPD-Chefin Anke Rehlinger. Um den dritten Posten konkurrier­en Juso-Chef und Groko-Gegner Kevin Kühnert, der Esken und Walter-Borjans mit zum Sieg verholfen hat, und Arbeitsmin­ister und Groko-Befürworte­r Hubertus Heil. Die Delegierte­n können ein direktes Duell der beiden nur noch dadurch verhindern, vier Vizeposten zuzulassen. Aus dem Vorstand hieß es jedoch, dass dann auch mit einer Debatte um die geplante Verringeru­ng der Delegierte­nanzahl für Parteitage zu rechnen sei. Zudem soll es auch einen Antrag auf einen radikalen Austritt aus der Koalition geben – möglicherw­eise mit Abstimmung. Und am Ende könnten sich manche Genossen an Worte von Ex-Parteichef Sigmar Gabriel erinnern: Man müsse aufpassen, „dass die Rigorositä­t nicht Einzug hält in die Sozialdemo­kratie“, sagte er Ende 2015. Jetzt hat die SPD die nächste Chance zum Neustart – vielleicht die letzte.

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