Rheinische Post Krefeld Kempen
Kompromiss gegen reine Lehre
Kommt mit dem neuen Führungsduo der radikale Schnitt? Oder bleibt die SPD in der Koalition? Der Parteitag stellt die Weichen.
BERLIN Wenn die Sozialdemokraten an diesem Freitag ihren Parteitag eröffnen, stecken sie in einem Dilemma. Ein Teil der SPD will raus aus der großen Koalition, ein anderer will an dem Bündnis mit der Union festhalten. Ein Teil der SPD fordert strengeren Klimaschutz und Nachschärfungen am Maßnahmenbündel der Bundesregierung, ein anderer Teil warnt vor zu teurem Klimaschutz zulasten von Menschen mit wenig Geld. Wie sollen Saskia Esken und NorbertWalter-Borjans, die sich den 600 Delegierten am Freitag zur Vorsitzwahl stellen, ihren Kurs in diesem aufgewühlten Fahrwasser finden?
Der sozialdemokratische Übervater Willy Brandt sagte einst, die SPD müsse „die Partei des donnernden Sowohl-als-auch“sein. Diesem Diktum scheint der Leitantrag für den Parteitag zu folgen, den der Parteivorstand am Donnerstag einstimmig beschloss. Esken bezeichnete ihn als „guten Kompromiss“. Und als ob sie ihrer Hoffnung auf Akzeptanz aus allen Parteiflügeln Ausdruck verleihen wollte, fügte sie hinzu: „Aber Sie werden nachvollziehen können, dass es nicht die reine Lehre sein kann dessen, wovon wir überzeugt sind. Das ist das Wesen eines Kompromisses.“Wir – damit meinte sie in diesem Fall sich und Walter-Borjans.
Denn frühere Forderungen des Duos etwa nach zusätzlichen staatlichen Investitionen von gut 450 Milliarden Euro binnen zehn Jahren finden sich nicht in dem Vorstandsantrag wieder. Die SPD verweist darin lediglich darauf, dass Institute mit so einem Bedarf für Bildung, Verkehr, Kommunikationsnetze und Klimaschutz rechnen. Auch eine Aufgabe der schwarzen Null wird nicht gefordert – aber stetige Investitionen dürften nicht an dogmatischen Positionen wie der schwarzen Null scheitern. Wie bereits in früherenVorstandsanträgen fordert auch das neue Papier perspektivisch die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro. Ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen findet sich als „kostenfreie Klimaschutzmaßnahme“im Antrag. Zum
CO2-Preis steht keine höhere Zahl darin, nachdem die Koalition zehn Euro pro Tonne beschlossen hatte. Stattdessen heißt es nun: „Wir streben einen umfassenden, breit wirksamen sozialen Ausgleich an, der für jeden gleichmäßig wirkt, um einen höheren CO2-Preis zu ermöglichen.“Die Kompensation über die Pendlerpauschale, die das Kabinett und der Bundestag bereits beschlossen hatten, steige mit dem Einkommen und sei „ungeeignet, um Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen zu entlasten“, so der Antrag. Bundesfinanzminister Olaf Scholz, der mit der Brandenburgerin Klara Geywitz in der Vorsitzwahl gegen Esken und Walter-Borjans unterlag, hatte vor Monaten noch für diesen Weg der Entlastung geworben. Scholz wird nach dem Parteitag für sich entscheiden müssen, ob er einen neuen Kurs der Parteispitze in der Koalition mit umsetzen will – oder zurücktritt.
Esken und Walter-Borjans, die nach der umkämpften Stichwahl nicht mit einem Rekordergebnis rechnen dürfen, brauchen jedoch genug Rückhalt, um mit einem Führungsteam gestärkt in die Gespräche mit der Union zu gehen. Von dort kamen zuletzt keinerlei Zeichen des Kompromisses. Harte Verhandlungen stehen bevor, keine Seite will hinterher als erpressbar gelten. Doch mit welchen Stellvertretern sich Esken und Walter-Borjans künftig abstimmen werden, ist auch noch offen. Geht es nach dem Vorstand, soll es künftig statt sechs
nur noch dreiVizes geben. Zwei dieser Posten gehen mit hoher Wahrscheinlichkeit an Geywitz und die saarländische SPD-Chefin Anke Rehlinger. Um den dritten Posten konkurrieren Juso-Chef und Groko-Gegner Kevin Kühnert, der Esken und Walter-Borjans mit zum Sieg verholfen hat, und Arbeitsminister und Groko-Befürworter Hubertus Heil. Die Delegierten können ein direktes Duell der beiden nur noch dadurch verhindern, vier Vizeposten zuzulassen. Aus dem Vorstand hieß es jedoch, dass dann auch mit einer Debatte um die geplante Verringerung der Delegiertenanzahl für Parteitage zu rechnen sei. Zudem soll es auch einen Antrag auf einen radikalen Austritt aus der Koalition geben – möglicherweise mit Abstimmung. Und am Ende könnten sich manche Genossen an Worte von Ex-Parteichef Sigmar Gabriel erinnern: Man müsse aufpassen, „dass die Rigorosität nicht Einzug hält in die Sozialdemokratie“, sagte er Ende 2015. Jetzt hat die SPD die nächste Chance zum Neustart – vielleicht die letzte.