Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Geschichte der Bienen
Und ich… ich hätte nicht gedacht…«
»Nein. Aber hier bin ich also.« Er ergriff mit beiden Händen die meine. Ihre Wärme durchströmte mich, pumpte mein Blut in jeden kleinsten Winkel meines Körpers. Und aus dem Augenwinkel sah ich Edmund. Er war noch immer da, hatte uns, hatte mich, noch immer im Blick, war noch immer genauso aufmerksam und wach. Er sah.
Tao
Ich blieb den ganzen Tag in der Bibliothek, las Bücher und alte Zeitungsartikel, sah Filme auf einem leiernden Videogerät in der untersten Etage. Ich musste mir ganz sicher sein.
Vieles von dem, was ich las, war Schulstoff. Ich fühlte mich in den langweiligen Naturgeschichtsunterricht zurückversetzt, in dem der Lehrer so monotone Vorträge hielt, dass wir dieses Fach bald in Gute-Nacht-Geschichte umtauften. Wir waren noch zu klein, um die Bedeutung dessen zu begreifen, was er vermittelte. Wenn der Lehrer uns mit seinen faltenumkränzten Augen anblickte, drehten wir uns lieber zur Sonne vor dem Fenster, überlegten, welche Phantasietiere die Schönwetterwolken bildeten, oder schielten zur Uhr an der Wand, um herauszufinden, wie lange es noch bis zur nächsten Pause dauerte.
Jetzt stieß ich erneut auf alle Fakten, die uns der Leh- rer damals hatte eintrichtern wollen. Einige Jahreszahlen hatte ich sogar noch im Kopf.
2007. Das war das Jahr, als der Kollaps einen Namen bekam. CCD – Colony Collapse Disorder.
Doch es hatte schon lange davor angefangen. Ich fand einen Film über die Entwicklung der Imkerei im vori- gen Jahrhundert. Nach dem
Zweiten Weltkrieg entwi- ckelte sich die Bienenzucht auf der ganzenWelt zu ei- nem blühenden Wirtschaftszweig. Allein in den USA gab es 5,9 Millionen Bienenkolonien. Doch die Zahlen san- ken sowohl dort wie auch im Rest derWelt. 1988 hatte sich die Zahl der Bienenstöcke bereits halbiert. Das Bie- nensterben traf viele Orte, Sichuan beispielsweise schon in den 1980er Jahren. Doch erst als es die USA erreichte – in einer so dramatischen Weise wie eben in jenen Jahren 2006 und 2007, als Bauern mit mehreren tausend Bie- nenstöcken im Laufe weniger Wochen von dem Mas- senschwund getroffen wurden –, erst da bekam der Kol- laps einen Namen. Vielleicht weil es in den USA geschah, denn zu dieser Zeit war nichts wirklich von Bedeutung, ehe es nicht auch in den USA geschah. Das Massensterben der Bienen in China verdiente keine eigene weltumspan- nende Diagnose. So war es damals gewesen. Später sollte sich alles umkehren.
Über die CCD war eine Vielzahl von Büchern geschrie- ben worden. Ich blätterte darin, fand jedoch keine eindeu- tigen Antworten. Über die Ursache des Kollapses herrschte keine Einigkeit, denn die eine Ursache gab es nicht. Es wa- ren viele. Als Erstes waren giftige Pflanzenschutzmittel in den Blickpunkt gerückt. In Europa waren im Jahr 2013 ei- nige Pestizide vorübergehend verboten worden und nach und nach auch auf den übrigen Kontinenten. Nur die USA weigerten sich hartnäckig. Manche Forscher glaubten, die Gifte würden das innere Navigationssystem der Bie- nen beeinflussen und so verhindern, dass sie wieder zum Bienenstock zurückfanden. Die Giftstoffe wirkten auf das Nervensystem kleiner Insekten ein, weshalb sich viele Wis- senschaftler sicher waren, dass eine der Hauptursachen des Bienensterbens in diesen Pestiziden lag. Das Verbot folge einem Vorsorgeprinzip, wurde gesagt. Aber die Forschungs- ergebnisse waren nicht eindeutig genug und die Konse- quenzen eines generellen Verbots zu weitreichend. Ganze Ernten wurden von Insekten zerstört, was eine Nahrungs- mittelknappheit zur Folge hatte. Eine moderne Landwirt- schaft war ohne Gift nicht möglich. Und die Erfolge des Verbots waren zu geringfügig, die Bienen verschwanden dennoch. 20r4 wurde festgestellt, dass in Europa 7 Milli- arden Bienen fehlten. Weil das Gift im Boden gespeichert wurde, behaupteten manche, die Bienen würden weiterhin sterben, weil das Gift sie noch immer beeinflusste. Doch sie fanden nur wenig Gehör, und nach einer kurzen Test- phase wurde das Verbot wieder aufgehoben.
Es lag nicht allein an den Spritzmitteln. Auch die Varroamilbe, ein winziger Parasit, der die Bienen angriff, trug eine Mitschuld. Sie setzte sich wie ein großer Ball auf dem Körper der Biene fest, saugte die Hämolymphe aus ihnen heraus und verbreitete Viren, die häufig erst viel später entdeckt wurden.
Hinzu kamen die extremen Wetterlagen. Allmählich veränderte sich das Klima auf der Welt. Ab dem Jahr 2000 ging es immer schneller. Trockene, warme Sommer ohne Blüten und Nektar töteten die Bienen. Harte Winter töteten die Bienen. Und Regen. Wenn es regnete, hielten die Bienen sich genau wie der Mensch lieber drinnen auf. Nasse Sommer bedeuteten einen langsamen Tod.
Ein weiterer Faktor war die Monokultur. Für die Bie- nen war die Erde eine grüne Wüste. Kilometerweit nur Felder, auf denen immer dieselben Nutzpflanzen angebaut wurden, und ein Mangel an unberührten Flächen. Der Mensch entwickelte sich rasant, und die Bienen kamen nicht hinterher. Und verschwanden.
Ohne die Bienen lagen mit einem Mal tausende Hektar bewirtschaftete Felder brach. Blühende Büsche ohne Bee- ren, Bäume ohne Obst. Plötzlich wurden landwirtschaft- liche Erzeugnisse, die früher alltäglich gewesen waren, zur Mangelware: Äpfel, Mandeln, Apfelsinen, Zwiebeln, Brok- koli, Karotten, Blaubeeren, Nüsse und Kaffeebohnen.
Im Laufe der 2030er Jahre ging auch die Fleischpro- duktion zurück, weil die wichtigsten Futterpflanzen für Nutztiere nicht mehr kultiviert werden konnten. Aus demselben Grund mussten die Menschen bald darauf ohne Milchprodukte auskommen. Und die Produktion von Biotreibstoff wie Sonnenblumenöl, in die man große Hoffnungen gesetzt hatte, war auf einmal hinfällig, weil auch sie von der Bestäubung abhängig war. So kehrte man abermals zu den nicht erneuerbaren Energien zurück, was wiederum die Erderwärmung beschleunigte.
Zur selben Zeit stagnierte das Bevölkerungswachstum. Erst kam es zum Stillstand, dann begann die Kurve nach unten zu zeigen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit vermehrten wir uns nicht mehr. Unsere Art befand sich auf dem Rückzug. Das Bienensterben betraf die Kontinente in unterschiedlichem Maße. Die amerikanische Landwirtschaft geriet als Erstes in die Krise.
(Fortsetzung folgt)