Rheinische Post Krefeld Kempen
„Unser Ziel sind mindestens 20 Prozent“
Der neue SPD-Vorsitzende über die Ausrichtung der Partei, Gespräche mit der Union und interne Machtkämpfe.
BERLIN Seine Mitarbeiter schicken den neuen SPD-Chef kreuz und quer durch die Messehalle. Norbert Walter-Borjans eilt beim Parteitag von einer Besprechung zur nächsten. Dennoch wirkt der 67-Jährige beim ersten Zeitungsinterview nach seiner Wahl konzentriert und entspannt.
Herr Walter-Borjans, brauchen Sie nach dem Wahlkampf und dem Parteitag in Berlin schon Urlaub?
WALTER-BORJANS Was heißt hier schon? Ich bin seit Monaten im Dauereinsatz. Jetzt geht es erst einmal weiter an die Arbeit. Ich spüre den Reiz der Herausforderung. Aber zwischenWeihnachten und Neujahr sollten ein paar freie Tage drin sein.
Das Umfrage-Institut Forsa sieht die SPD bei elf Prozent. Da brauchen
Sie über einen Kanzlerkandidaten nicht nachzudenken, oder?
WALTER-BORJANS Das ist in der für alle neuen Situation doch keinWunder. Im Übrigen gibt es neuere Umfragen als diese, die uns viel positiver sehen. Wir wollen jetzt das sozialdemokratische Profil schärfen, unabhängig von der Koalitionsfrage. Wenn klarer wird, wofür wir und wofür die anderen stehen, steigen auch wieder unsere Umfragewerte. Davon bin ich überzeugt. Die Reihenfolge ist so: mehr Zustimmung durch Inhalte, nicht durch einen Kandidaten.
Ab welchem Wert denken Sie über einen Kanzlerkandidaten nach?
WALTER-BORJANS Das ist eine mathematische Frage. MitWerten unter 20 Prozent können wir keine Regierungsmehrheit anführen. Darüber ist es durchaus sinnvoll, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen. Aber da sind wir noch nicht. Etwa ein Drittel der Bevölkerung teilt konkrete sozialdemokratische Forderungen und Werte. Das Potenzial ist also groß, und das treibt uns an. Kurzfristig muss unser Ziel mindestens die 20-Prozent-Marke sein.
Beim Parteitag haben die Parteivizes Hubertus Heil und Kevin Kühnert aus unterschiedlichen Lagern fast identische Ergebnisse bekommen. Kommt jetzt ein Dauerduell?
WALTER-BORJANS Ich nehme Hubertus Heil und Kevin Kühnert so wahr, dass sie ihre unterschiedlichen Positionen klar zum Ausdruck bringen können und gleichzeitig nicht über andere hinwegrollen. Beide sind klugeVertreter eines weiten sozialdemokratischen Spektrums. Es wird also kein Dauerduell zwischen ihnen geben, sondern eine breit aufgestellte, aber in sich geschlossene SPD...
...die jetzt auf die Union treffen wird.Was machen Sie, wenn CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer Ihre Forderungen abschmettert und Sie am Ende mit leeren Händen dastehen?
WALTER-BORJANS Frau Kramp-Karrenbauer hat sich selbst auf die Revisionsklausel berufen. Daran werden wir sie messen. Ich habe ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass wir massiv investieren müssen. Das sagen auch Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Wirtschaftsinstitute. Annegret Kramp-Karrenbauers Argument, vorhandene Mittel würden gar nicht abfließen, deshalb brauche es keine neuen, halte ich für falsch. Denn Unternehmen und der Staat schaffen nur dann mehr Stellen für Planer, Ingenieure und anderes derzeit fehlendes Personal, wenn die Investitionen dauerhaft hoch bleiben – zur Not dann eben auch aus Krediten finanziert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass CDU und CSU sich lange hinter dem Fetisch der schwarzen Null verbarrikadieren.
Gibt es schon einen Termin für den Koalitionsausschuss?
WALTER-BORJANS Nein. Ich erwarte aber, dass wir uns noch vor Weihnachten zusammensetzen. Erstmal zum Kennenlernen und dann im Format eines Koalitionsausschusses.
Wir sind in Kontakt mit der Kanzlerin und der Führung der CDU. Angela Merkel hat uns beiden gratuliert.
Und der SPD-Vorstand muss dann im Januar entscheiden, ob ihm Ihre Verhandlungsergebnisse für eine Fortsetzung der Koalition genügen?
WALTER-BORJANS Der neue Parteivorstand der SPD hat sich gerade erst konstituiert. Wir haben ihn verkleinert. Zugleich gibt es neue Gesichter. Da ist es ganz natürlich, dass wir uns erstmal intern zusammensetzen, bevor wir Verhandlungen mit anderen führen.
Nach dem langen Wahlkampf um den Parteivorsitz könnte aber auch eine Hängepartie drohen, wenn Sie jetzt nicht zügig die Koalitionsfrage entscheiden.
WALTER-BORJANS Es gab keine Hängepartie der Regierung während unserer internen Kandidatenkür, und es wird sie auch während der anstehendenVerhandlungen nicht geben. Ich bin skeptisch, dass große Koalitionen die richtige Grundlage dafür sind, die drängenden Fragen der Zeit zufriedenstellend zu beantworten, aber wir haben sie nun einmal. Gemessen daran haben Sozialdemokraten viel erreicht. Denken Sie nur an die Grundrente oder den Kohlekompromiss. Es geht jetzt um die Frage der Neuausrichtung auf grundlegende neue Herausforderungen wie den öffentlichen Investitionsstau.
Trägt Olaf Scholz diese Neuausrichtung zu Investitionen mit?
WALTER-BORJANS Die finanzpolitischen Ansichten von Olaf Scholz und mir liegen gar nicht so weit auseinander. Er hält nicht krampfhaft an der schwarzen Null fest, und ich fordere nicht die Abschaffung um ihrer selbst Willen. Es geht um kalkulierbare Investitionen. Ich bin sicher, dass wir gut zusammenarbeiten werden.
Werden Sie in den Konflikt von Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Umweltministerin Svenja Schulze über Windkraftabstände und den Kohleausstieg eingreifen?
WALTER-BORJANS Bei Herrn Altmaier hört man verschiedene Töne. Auf der einen Seite ist er für Investitionsfonds. Er sagt ganz klar, dass der Markt nicht alle Probleme lösen kann. Auf der anderen Seite ist er eingebunden in eine ziemlich enge Sicht, was der Staat tun darf.Wir werden Svenja Schulze den Rücken stärken und nicht den vielfältigen Partikularinteressen nachgeben. Die dürfen keine Entschuldigung dafür sein, dass wir nicht weiterkommen.