Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Geschichte der Bienen
Zwischen den Feldern wurden Schutzhecken angelegt. Giftstoffe wurden noch einmal verboten. Doch das hatte erneut zur Folge, dass ganze Ernten von Schädlingen vernichtet wurden.
Englische Forscher hatten genmanipulierte Pflanzen entwickelt, Pflanzen, die die insekteneigenen Pheromone enthielten, die E-Beta-Farnesene, jene Stoffe, die die Insekten selbst absonderten, um zu signalisieren, dass Gefahr im Verzug war. Diese genmanipulierten Pflanzen wurden nun breit angebaut. China, das unter Lebensmit- telknappheit litt, nutzte die Neuzüchtung als Erstes. Die Pheromone würden die Bienen nicht beeinflussen, hieß es, sie würden nicht darauf ansprechen. Die Naturschüt- zer protestierten lauthals und meinten, die Bienen würden sehr wohl darauf reagieren, auf dieselbeWeise wie auch die Schädlinge. Doch man ignorierte sie. Es sei eine Win-win-Situation, wurde behauptet. Der Mensch könne mit der industriellen Landwirtschaft fortfahren – eine andere Lösung gäbe es nun einmal nicht –, und die Bienen blieben von dem Nervengift im Pflanzenschutzmittel verschont.
Und so wurden die Felder mit genmanipulierten Nutzpflanzen überzogen, und die Ergebnisse waren positiv. So positiv, dass man den Schritt nun überall auf der Welt wagte und sich die genmanipulierten Pflanzen mit großer Geschwindigkeit verbreiteten. Sie waren auf demVormarsch. Allein, das Bienensterben ging weiter. Es eskalierte. Im Jahr 2029 fehlten in China 100 Milliarden Bienen.
Ob die Bienen tatsächlich auf die Pheromone reagierten, konnte nie zweifelsfrei festgestellt werden. Es war ohnehin zu spät. Die Pflanzen wuchsen inzwischen auch wild. An jedem Straßenrand konnte man Gewächse finden, die Insekten in die Flucht schlugen.
Dann hielt die Welt inne.
In der Bibliothek fand ich Interviews mit Imkern aus allen Teilen der Welt. Ihre Resignation war unverkennbar. Sie waren Repräsentanten der Krise. Einige von ihnen waren wütend und schworen, dass sie kämpfen würden, aber je später die Interviews geführt wurden, desto deutlicher zeigte sich ihre Verzweiflung. Hätte ich diese Filme früher gesehen, hätten sie keinen großen Eindruck bei mir hinterlassen. Es waren Zeugnisse aus einer anderen Zeit. Mitgenommene Männer in mitgenommener Arbeitskleidung, grobe Gesichtszüge, sonnenverbrannte Haut, eine schlichte Ausdrucksweise, sie hatten nichts mit mir zu tun. Jetzt aber wurde jeder dieser Menschen für mich lebendig, jede persönliche Katastrophe. Jeder Einzelne von ihnen hinterließ Spuren.
George
Eines Tages tauchte er einfach auf. Vielleicht hatte Emma ihn angerufen. Ich hörte seine Stimme, alsich die Haustür öffnete. Ich war im Schuppen gewesen, unter meinem Ohrenschutz hörte ich nichts, keine ein- oder ausfahrenden Autos, keine Stimmen auf dem Hofplatz und auch keine Emma, die mich rief.
Es war die Stimme eines erwachsenen Mannes. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er es war. So klang seine Stimme jetzt.
Ich lief über den Hofplatz. Er war gekommen! Emma hatte ihm bestimmt von der Lage berichtet. Sie telefonierten wohl immer noch miteinander, und er war gekommen, um zu helfen!Wenn er hier war, würde alles leichter. Mit ihm zusammen konnte ich alles bewältigen. 20 Stunden am Tag zimmern. Härter arbeiten als je zuvor.
Dann aber hörte ich, worüber er sprach. Er erzählte von seinem Ferienjob. Voller Eifer. Ich blieb stehen, konnte mich nicht überwinden, hineinzugehen.
»Es ging um Tomaten – aber trotzdem«, sagte er.
»Irgendwie ist alles spannend, sobald man sich näher damit beschäftigt. Ich habe noch nie so große Tomaten gesehen. Und der Fotograf auch nicht. Und der Bauer, der den Wettbewerb gewonnen hatte, war wahnsinnig stolz. Der Artikel kam auf die erste Seite, stell dir das mal vor! Das Erste, was ich geschrieben habe, kam direkt auf den Titel!«
Ich legte die Hand auf die Klinke. Emma lachte hemmungslos und war so voll des Lobes, als wäre er ein Fünfjähriger, der gerade Fahrradfahren gelernt hatte.
Ich drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür.
Sie verstummten jäh.
»Hallo«, sagte ich. »Ich wusste gar nicht, dass du kommen wolltest.«
»Da bist du ja«, begrüßte Emma mich.
»Ich wollte Mama überraschen«, erklärte Tom.
»Er ist den ganzen weiten Weg gekommen, obwohl er am Sonntag schon wieder fahren muss«, sagte Emma.
»Und was hat das für einen Sinn?«, fragte ich.
»Es ist doch Mamas Geburtstag«, sagte Tom.
Das hatte ich völlig vergessen. Ich überlegte schnell, was für ein Datum wir hatten, und stellte erleichtert fest, dass der Geburtstag erst morgen war.
»Außerdem wollte ich sehen, wie es hier so geht«, fügte er leise hinzu. »Und was hat das für einen Sinn?« »George«, sagte Emma in scharfem Ton.
»Hier läuft alles prima«, sagte ich zu Tom. »Aber schön, dass du zum Geburtstag nach Hause gekommen bist.«
Am nächsten Tag feierten wir mit einem Fischgericht. Wir hatten keinen Fisch mehr gegessen, seit er das letzte Mal zu Hause gewesen war. Tom erzählte Geschichten von der Lokalzeitung, bei der er jetzt jobbte. Er sagte es nicht direkt, aber ich hörte heraus, dass er viel Lob erntete. Der Redakteur meinte, er hätte »einen Blick dafür«, was auch immer dieses »dafür« eigentlich sein sollte. Emma lachte die ganze Zeit, ich hatte schon fast vergessen, wie ihr Lachen klang.
Zuvor war ich noch hektisch in die Stadt gefahren und hatte eine teure Strumpfhose und eine Handcreme gekauft.
»Ach. Du hättest mir dieses Jahr nichts schenken brauchen«, sagte sie, als sie das Päckchen öffnete.
»Natürlich sollst du ein Geschenk haben«, erwiderte ich. »Außerdem sind es nützliche Sachen, von denen du etwas hast.«
Sie nickte und murmelte einen Dank, aber ich konnte sehen, wie ihre Augen das halb abgekratzte Preisschild streiften, wahrscheinlich überlegte sie, wie viel Geld ich ausgegeben hatte, das wir eigentlich nicht hatten.
Tom schenkte ihr ein dickes Buch mit einem Bild von einem Bauernhof im Nebel auf dem Cover. Sie mochte Bücher, von denen sie lange etwas hatte.
(Fortsetzung folgt)