Rheinische Post Krefeld Kempen

Geschichte­n gegen das Vergessen

- VON MARIE LUDWIG

Der Verein „Heimatsuch­er“interviewt Holocaust-Überlebend­e und schreibt ihre Geschichte­n auf. Um sie zu treffen, sind die Vereinsmit­glieder nach Israel gereist. Diese beiden Lebensberi­chte haben sie mitgebrach­t.

Im Februar 1945 marschiert Herta Goldmann nur in einem Kleid durch Eis und Schnee – gemeinsam mit einer Gruppe jüdischer Mädchen, angetriebe­n von Befehlshab­ern der SS. Auf die Frage, wohin es gehe, habe ein SS-Funktionär geantworte­t: „Wir haben kein Ziel, unser Ziel ist, dass ihr alle auf dem Weg krepiert.“In Wirklichke­it flohen ihre Peiniger vor der nahenden russischen Armee. Der ZweiteWelt­krieg war beinahe vorbei.

Die 91-Jährige beschreibt Janika Raisch diese Szene aus ihrer Vergangenh­eit bildhaft und hat all das auch in einem selbstverf­assten Lebenslauf niedergesc­hrieben. Raisch ist Mitglied im Essener Verein „Heimatsuch­er“und aus Deutschlan­d nach Israel gereist, um die Geschichte der Holocaust-Überlebend­en aufzuschre­iben. Ihr Verein will dafür sorgen, dass lebendige Erinnerung­en an den Holocaust über

Herta Goldmann

dauern. Deshalb treffen Raisch und andere Vereinsmit­glieder regelmäßig Holocaust-Überlebend­e in aller Welt. Neben Herta Goldmann besuchen sie in Tel Aviv auch Grete Hamburg.

Sie habe das Team in ihrer Wohnung herzlich willkommen geheißen, erzählt Raisch, und begonnen, vom dunkelsten Kapitel ihrer Lebensgesc­hichte zu erzählen: Aufgewachs­en ist Grete Hamburg in der Slowakei in einer jüdischen Familie. Als die Deutschen einmarschi­erten, hätten sie sich alle auf einem Dachboden versteckt. Dort habe man sie jedoch entdeckt – nach und nach wurden die Familienmi­tglieder in das Konzentrat­ionslager Auschwitz deportiert.

Es ist das erste Interview, das Grete Hamburg auf Deutsch gibt. Immer wieder seien ihr die Tränen gekommen. Und sie habe ihre Geschichte erst einmal ohne Unterbrech­ungen erzählen wollen, schildert Janika Raisch nach dem Gespräch. Gerade deshalb folgen die Interviews des Vereins keinem strukturie­rten Leitfaden. Es solle ein „Ins-Gespräch-Kommen“sein, kein unpersönli­ches Abfragen. Grete Hamburg und Herta Goldmann sind Geschichte 34 und 35 in der Sammlung des Vereins.

Angefangen hat die Arbeit der „Heimatsuch­er“auf die Initiative zweier Designstud­entinnen. Für ein Projekt an der Universitä­t haben sie sieben Holocaust-Überlebend­e interviewt und auch Fotos von den Betroffene­n gemacht. Das war im Jahr 2010.Vier Jahre später gründeten die beiden einen Verein.

Jede der 35 Geschichte­n bekommt ein eigenes Magazin. Außerdem werden die Fotos in einer Wanderauss­tellung gezeigt und die Lebensgesc­hichten von „Zweitzeuge­n“an Schulen weitererzä­hlt und dort in Projekten bearbeitet. „Ich finde es wichtig, dass die Geschichte­n bewahrt werden. Dieser persönlich­e und emotionale Zugang ist einmalig“, sagt Janika Raisch.

Im Gegensatz zu Grete Hamburg hat Herta Goldman schon oft über ihre Geschichte mit Außenstehe­nden gesprochen. In ihrem Arbeitszim­mer hat sie etliche Urkunden aufbewahrt. Auch der selbstgesc­hriebene Lebenslauf ist mit dabei. Er erzählt von dem Marsch durch Eis und Schnee und davon, wie die Deutschen 1939 nach Polen eingefalle­n sind und der Familie ihr Restaurant und alles Wertvolle abnahmen – vom Cello bis zu Wanderschu­hen. Sie beschreibt, wie ihre gesamte Familie deportiert wurde. Wie sie selbst in ein Arbeitslag­er nach dem anderen kam.„Wir sollten nicht hoffen, dass die Sonne wieder für uns scheinen wird, wir werden so lange arbeiten, bis wir krepieren, und wer nicht krepiert, der kommt nach Auschwitz.“

Nur durch eine glückliche Fügung im Februar 1945 konnte sie fliehen und nachts während des Todesmarsc­hes die Tür einer Scheune aufbrechen, in der sie gefangen gehalten wurde. Anschließe­nd gab sie sich als Deutsche aus. Doch erst als der Krieg zu Ende war, wagte sich Herta Goldman auf einen dreiwöchig­en Fußmarsch zurück nach Polen.„Mit eitrigen Füßen, kaum am Leben, kam ich an. Da sind Menschen zu mir gekommen und sagten zu mir: Wieso lebst du noch? Die Deutschen haben uns versproche­n, alle Juden zu töten“, schreibt sie. Es folgte eine erneute Flucht und die verzweifel­te Suche nach ihren Verwandten.

Den Holocaust hat nur ihr Vater überlebt. Die beiden trafen sich in einem Flüchtling­slager, dann wanderte sie nach Palästina aus. Ihr Vater durfte nicht mitkommen – er war zu schwach. Noch heute plagen Goldman Schuldgefü­hle, ihn allein zurückgela­ssen zu haben. Er sei in die USA emigriert, habe nur noch fünf Jahre gelebt und sei mit 50 Jahren gestorben. „Die Nazis haben die Hölle auf Erden gebracht, taten unmenschli­che Dinge und wurden zu Bestien.“

Den Kontakt zu Helga Goldman und Grete Hamburg werden die Heimatsuch­er halten. Und den beiden Briefe von Schülern schicken, die sich mit ihren Geschichte­n beschäftig­t haben. Raisch erzählt, dass die Überlebend­en diese Briefe besonders gern sammeln. Es sind Worte gegen das Vergessen. Damit das Leid nicht Überhand gewinnt, das Herta Goldman in ihrem selbst geschriebe­nen Lebenslauf schildert: „P.S. Ich lebe mit der Vergangenh­eit, Schmerz und schlaflose­n Nächten.“

„Ich lebe mit der Vergangenh­eit,

Schmerz und schlaflose­n Nächten“

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FOTO: BJÖRN HELPAP Der Verein „Heimatsuch­er“hat Grete Hamburg in Tel Aviv getroffen. Über ihre Leidensges­chichte hat sie selten mit Außenstehe­nden gesprochen.

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