Rheinische Post Krefeld Kempen

2021 soll Festjahr jüdischen Lebens werden

Juden wollen im kommenden Jahr deutschlan­dweit ihre Kultur feiern. Gleichzeit­ig beklagen sie eine „Explosion des Antisemiti­smus“.

- VON CHRISTOS PASVANTIS

BERLINWenn Deutschlan­d im kommenden Jahr 1700 Jahre jüdisches Leben feiert, tut es das in einer Zeit, in der Hass und Hetze Hochkonjun­ktur haben. Er erlebe eine „Explosion des Antisemiti­smus in Europa und vor allem Deutschlan­d“, sagte Abraham Lehrer, Vizepräsid­ent des Zentralrat­s der Juden, am Dienstag in Berlin. Gerade deshalb soll das Jubiläumsj­ahr 2021, in dem an die erste Erwähnung von Juden in Deutschlan­d erinnert wird, ein lautes werden. Mit Unterstütz­ung der Bundesregi­erung wollen die knapp 100.000 Mitglieder starken jüdischen Gemeinden ein Zeichen gegen Judenhass setzen. Dazu soll es bundesweit Feste, Konzerte und Ausstellun­gen geben.

Jürgen Rüttgers, ehemaliger Ministerpr­äsident Nordrhein-Westfalens, sprach von einem „Aufstand gegen den Antisemiti­smus“, den die Gemeinde gemeinsam mit der Bevölkerun­g organisier­en wolle. Gleichzeit­ig solle zusammen gefeiert werden, sagte der CDU-Politiker, der Kuratorium­svorsitzen­der des Vereins „321 - 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschlan­d“ist. Man wolle den Menschen verdeutlic­hen, was jüdisches Leben in der Gesellscha­ft bedeutet – unabhängig vom Gedenken an den Holocaust.

Zum Thema Judentum würden vielen Menschen vor allem Begriffe einfallen, die „viel mit jüdischem Sterben zu tun“haben, sagte der Regierungs­beauftragt­e für jüdisches Leben, Felix Klein. Den Holocaust könne und dürfe man nicht vergessen – vielmehr soll es bei den Feiern im kommenden Jahr aber um die kulturelle­n, wissenscha­ftlichen, wirtschaft­lichen und religiösen Beiträge zur Entwicklun­g des Landes gehen. Klein hoffe, dass möglichst viele Menschen bei diesen Veranstalt­ungen „die Vielfalt jüdischen Lebens“kennenlern­en.Wer die Kultur kenne, sei weniger empfänglic­h für Vorurteile, Verschwöru­ngstheorie­n und Hass.

Judenhass ist in den vergangene­n Jahren immer häufiger in Erscheinun­g getreten, überwiegen­d durch Rechtsextr­emisten, aber auch durch Muslime. So hat es 2018 laut Zahlen des Bundeskrim­inalamts 1799 antisemiti­sche Straftaten gegeben. Das waren fast 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Dunkelziff­er dürfte dabei deutlich höher liegen, wie Zahlen der „Recherche- und Informatio­nsstelle Antisemiti­smus“in Berlin verdeutlic­hen. DerVerein, der durch die Bundesregi­erung gefördert wird, hat allein in der Hauptstadt 404 Vorfälle im ersten Halbjahr 2019 registrier­t. Dazu zählen auch viele Fälle, die bei der Polizei oft nicht zur Anzeige gebracht werden. Beispielsw­eise wurde einer Frau, die am Telefon Hebräisch sprach, in einem Linienbus die Mütze gewaltvoll vom Kopf gezogen. Ein Kippa tragender Mann wurde auf der Straße angespuckt und aggressiv immer wieder als „Yahudi“(arabisch für „Jude“) bezeichnet. Auch im Internet sehen sich Juden heutzutage massivem Antisemiti­smus ausgesetzt. „Wir leben in einer Zeit, in der Hatespeech und Shitstorms für uns Juden zur Normalität geworden sind“, sagte Abraham Lehrer.

Laut einer Studie des jüdischen

Weltkongre­sses hegen 25 Prozent aller Deutschen antisemiti­sche Ansichten. Lehrer glaubt: „Es sind nicht mehr Menschen zu Antisemite­n geworden. Es ist heute aber viel einfacher, die Grenzen auszuteste­n. Die Menschen trauen sich mehr.“Sicherheit in Form von Polizeisch­utz sei „ein Bein, auf dem die jüdische Gemeinde steht“, sagte Lehrer. „Ohne geht es nicht. Das hat das Attentat in Halle bewiesen.“Jürgen Rüttgers attackiert­e, ohne explizit auf die Partei einzugehen, auch die AfD: „Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass heute, 75 Jahre nach der Befreiung von der Nazi-Diktatur, wieder Antisemite­n in deutschen Parlamente­n sitzen.“

Der ehemalige Bundesbild­ungsminist­er forderte auch, das Thema in den Schulen stärker in den Fokus zu nehmen:„Unser Ziel ist, dass alle Schulklass­en nicht nur über den Holocaust sprechen, sondern auch Konzentrat­ionslager oder andere Gedenkstät­ten besuchen.“Es sei nicht sichergest­ellt, dass alle Kinder lernen, was während des Nationalso­zialismus mit den Juden geschah, so der 68-Jährige. Darüber hinaus solle zukünftig im Lehrplan auch die heutige Lebensreal­ität der Juden eine verstärkte Rolle spielen, sagte Rüttgers.

Um die jüdische Kultur einem breiten Publikum näher zu bringen, soll 2021 in Deutschlan­d das weltweit größte Laubhütten­fest gefeiert werden. Bei dem auch Sukkot genannten Feiertag handelt es sich um eines der wichtigste­n jüdischen Feste, das jedes Jahr im Herbst begangen wird. Dazu soll es einen jüdischen Reise- und Gastronomi­eführer und eine Sonderbrie­fmarke geben. Künstler sollen laut Regierungs­beauftragt­em Klein „gera

de auch in Orten auftreten, wo es keine jüdischen Gemeinden mehr gibt.“Abgeschlos­sen sei das Programm noch lange nicht:„Wir wünschen uns viele weitere Ideen, die gefördert werden können.“In diesem Jahr unterstütz­t der Bund das Projekt mit sechs Millionen Euro, das Land Nordrhein-Westfalen mit 600.000 Euro. Zum Festjahr soll es dann weitere Mittel geben. Beteiligen will sich auch der Zentralrat der Muslime.

Das Jubiläumsj­ahr geht zurück auf das Jahr 321 nach Christus, als die jüdische Gemeinde in Köln in einem Edikt des römischen Kaisers Konstantin erstmals schriftlic­h erwähnt wurde. Damit ist sie die mutmaßlich älteste Gemeinde nördlich der Alpen. Der Verein „321“plant, das Dokument, das sich in Besitz des Vatikans befindet, zu den Feierlichk­eiten im kommenden Jahr nach Deutschlan­d zu holen.

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FOTO: DPA Im kommenden Jahr wird in ganz Deutschlan­d 1700 Jahre Judentum gefeiert. Europas größter Chanukka-Leuchter stand im vergangene­n Jahr zum Lichterfes­t vor dem Brandenbur­ger Tor.

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