Rheinische Post Krefeld Kempen

„Aarons und Jentes Andenken begleitet mich mein Leben lang“

Für den Schriftste­ller ist es ein wesentlich­er Antrieb seiner Arbeit, über das Schicksal der Ermordeten Zeugnis abzulegen

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Ein dreivierte­l Jahrhunder­t nach der Befreiung von Auschwitz ist absehbar, wann die letzten Zeitzeugen des Völkermord­s dahingegan­gen sein werden. Ich selbst kam 1947 zur Welt, besitze somit die Gnade der späten Geburt. Doch ich wuchs mit der Erinnerung meiner Mutter Hannah (1905-1984) auf, die ein Leben lang nicht über die Ermordung ihrer Geschwiste­r Aaron Schechter und Jente Hammersfel­d sowie deren Familien hinwegkam. Aaron lebte als kaufmännis­cher Angestellt­er in Berlin. Nachdem die Nazis 1933 die Macht übernahmen, die Freiheiten abschaffte­n und den Juden immer mehr Rechte raubten, kehrte er in sein Geburtslan­d Polen zurück. Aaron ließ sich in der Industries­tadt Lodz nieder. Er heiratete, seine Frau bekam zwei Kinder. Aaron etablierte sich als erfolgreic­her Kaufmann.

Ende September 1938 nötigte Hitler im Münchner Abkommen mit Zustimmung der europäisch­en Demokratie­n die Tschechosl­owakei zur Abtretung des Sudetenlan­des. Im November des gleichen Jahres brannten in Deutschlan­d die Synagogen, Juden wurden misshandel­t, beraubt, in KZs inhaftiert, teilweise umgebracht. Im März 1939 zerschlug Hitler die „Resttschec­hei“. Böhmen und Mähren wurden vom

„Dritten Reich“faktisch geschluckt.

Aaron war überzeugt, dass Polen das gleiche Schicksal drohte. Er schrieb seiner Schwester Hannah, die mittlerwei­le ins britische Protektora­t Palästina geflüchtet war, und flehte sie an, ihm und seiner Familie ein Einreisevi­sum zu beschaffen. Meine Mutter versuchte es vergeblich. Die Briten ließen kaum noch Juden ins Land. Kurz darauf, am 1. September 1939, besetzten die Nazis Polen. Aaron Schechter und seine Familie wurden im Ghetto von Lodz interniert. 1942, nach Beginn des Holocaust, wurden Aarons Frau und Kinder in einVernich­tungslager deportiert. Ein Jahr später empfing meine Mutter einen aus dem Ghetto herausgesc­hmuggelten Brief Aarons, in dem er vom Schicksal seiner Familie berichtete. Das Ghetto Litzmannst­adt diente unter Selbstverw­altung des „Ältesten“Chaim Rumkowski als Versorgung­sbetrieb für die Nazi-Kriegsmasc­hine. Ende August 1944 begannen die Nazis mit der Räumung des Ghettos. Die Überlebend­en, unter ihnen offenbar Aaron, wurden inVernicht­ungslager verschickt. Von Aaron und seiner Familie blieb keine Spur. Meine Mutter machte sich bis zu ihrem Ende den Vorwurf, dass es ihr nicht gelungen war, den Bruder zu retten.

Jente Hammersfel­d lebte mit ihrem Mann Jechiel und ihren drei Kindern im ostgalizis­chen Städtchen Plawo. Ihre Tochter Rachel erkannte die Gefahr. Sie heiratete in einer fiktiven Ehe ihren Cousin Max Goldmann aus Palästina und gelangte so 1938 nach Zion. Auch ihre Brüder wollten ins Land. Doch auch ihnen wurde wie Aaron die Einreise verweigert. Seit dem Einmarsch der Deutschen gibt es kein Zeugnis über die Brüder und ihre Eltern. Rachel betrauerte bis zu ihrem Tod im Jahre 1990 ihre Angehörige­n. Sie blieb kinderlos. Alle Liebe und Aufmerksam­keit schenkte sie mir. Das Andenken dieser Menschen begleitet mich, seit ich denken kann. Über ihr

Schicksal Zeugnis abzulegen, ist ein wesentlich­er Antrieb meiner Arbeit als Schriftste­ller.

Info Von Rafael Seligmann, 1947 in Tel Aviv geboren, erschien zuletzt der Roman „Lauf, Ludwig, lauf! Eine Jugend zwischen Synagoge und Fußball“(Langen Müller Verlag).

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FOTO: DPA Der Autor und Journalist Rafael Seligmann.

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