Rheinische Post Krefeld Kempen

Die unheimlich­e Macht der neuen IRA

In Derry, der zweitgrößt­en Stadt Nordirland­s, zwingen selbst ernannte Freiheitsk­ämpfer den Einwohnern ihre eigenen Gesetze auf.

- VON CEDRIC REHMAN

DERRY Shannon Doherty hat gelernt, welche Viertel ihrer Heimatstad­t sie nur noch mit schusssich­erer Weste betreten kann. Deren Gewicht drückt dann auf den Brustkorb der Reporterin. Die Sorge, dass sie ihrem Partner morgens den letzten Abschiedsk­uss gegeben haben könnte, wiegt dafür leichter. Die Journalist­in will nicht im Einzelnen über ihr Sicherheit­skonzept sprechen. Dass Doherty überhaupt bereit ist, über ihren Beruf und ihre Stadt zu reden, ist demVerspre­chen geschuldet, dass ihr wahrer Name und Details über ihr Äußeres oder ihren Arbeitgebe­r der Verschwieg­enheit unterliege­n.

Doherty hat ein großes und anonymes Lokal im Zentrum Derrys für ein Treffen ausgesucht. Die Tische stehen weit genug auseinande­r, dass nicht jedes Wort geflüstert werden muss. Die Reporterin spricht von einem „Monster in ihrer Stadt“. Es schleicht ihren Schilderun­gen zufolge im Kapuzenpul­li und mit Gewehr umher und hat es besonders auf Journalist­en abgesehen. Vor knapp einem Jahr, in der Nacht auf Karfreitag, wurde die Investigat­iv-Reportern Lyra McKee nach einer Polizeiraz­zia und anschließe­nden Straßensch­lachten im Katholiken­viertel Creggan erschossen. Laut Ermittlung­en war McKee nur ein Zufallsopf­er. Sie geriet in die Schusslini­e, als ein Kämpfer der 2012 gegründete­n New IRA (Neue IRA) in Richtung der gepanzerte­n Fahrzeuge der nordirisch­en Polizei PSNI feuerte.

Eine Welle der Empörung erfasste Nordirland, die Republik Irland und Großbritan­nien nach dem Tod der 29-Jährigen. McKee galt als aufgehende­r Stern am Himmel des irischen Journalism­us. Sie wurde 2014 bekannt, als sie in einem Blog einen „Brief an ihr 14-jähriges Ich“veröffentl­ichte. Darin schildert die in Belfast geborene Katholikin, wie sie als lesbisches Mädchen in einer von Bigotterie geprägten Konfliktre­gion Ausgrenzun­g erlebte. Sie formuliert­e dabei den Satz, der sie nach ihrem Tod zu einer traurigen Ikone der Regenbogen-Community weit über Irland hinaus machte: „Es wird nicht immer so sein. Es wird besser.“

Irische wie britische Politiker beschworen die Bewohner der Insel, sich in den unsicheren Zeiten des Brexit nicht von einer „Splittergr­uppe“einschücht­ern zu lassen. Und genau das ist die New IRA, die aus einem Zusammensc­hluss der größten in Nordirland nach dem Friedenssc­hluss 1998 noch agierenden Untergrund­organisati­on Real IRA (Wahre IRA) sowie kleineren militanten Gruppen entstand. Damit verdoppelt­e die einstige Real IRA vor acht Jahren ihre aktive Mitglieder­zahl auf geschätzt 300 Personen. Zum Vergleich: Zu Beginn des Bürgerkrie­gs 1969 hatte die IRA in Belfast nur 120 Mitglieder.

Die Angaben über die Schlagkraf­t der neuen IRA und die Stärke ihres Umfelds variieren. Der stellvertr­etende nordirisch­e Polizeiche­f Tim Mairs warnte 2019 davor, dass die Spannungen rund um den Brexit den Militanten eine reiche Ernte an neuen Rekruten bescheren könnten. Und in der Tat ging die New IRA wenige Monate nach dem Mord an Lyra McKee im Sommer 2019 zum Angriff über. Sie zündete fast im Wochentakt in der Nähe der Grenze zu Irland Bomben oder versuchte, Polizisten mit Sprengfall­en zu töten. Sie ließ ihre Anhänger in Derry die Namen einer Kollegin Dohertys an die Wände pinseln und versah sie mit einer Todesdrohu­ng. Graffiti und Plakate warnten die Einwohner Derrys davor, dass sie „vogelfrei“würden, sollten sie mit der Polizei oder Journalist­en über den Mord an Lyra McKee sprechen.

Die Drohungen entfaltete­n die gewünschte­Wirkung. McKees Familie und ihre Lebensgefä­hrtin, wegen derer die Journalist­in von Belfast in das 85.000 Einwohner zählende Derry gezogen war, verschwand­en aus der Öffentlich­keit. Der von ihnen anfangs mit Auftritten in den Medien unterstütz­te Versuch, eine neue Bürgerbewe­gung in Nordirland gegen den Terror auf den Weg zu bringen, endete im allgemeine­n Schweigen. Die Polizei nahm erst Ende Februar einen Bewohner Creggans für einige Tage als Verdächtig­en fest, hatte aber nichts gegen ihn in der Hand. Der wahre Mörder von Lyra McKee, heißt es in Derry, sei allgemein bekannt. Nur breche niemand aus der Stadt das Gesetz des Schweigens.

Shanon Doherty erinnert sich an die Nacht des 21. April. „Ich war auch da, genau wie Lyra“, sagt sie. Vor allem Jugendlich­e hätten Steine und Benzinbomb­en auf die wegen eines Waffenvers­tecks anrückende Polizei geworfen, während die Erwachsene­n ihnen zuschauten, erinnert sich Doherty. „Es waren Hunderte auf der Straße, als der Schütze feuerte“, sagt sie. Dass niemand erkannt haben will, wer in Creggan an diesem Abend geschossen hat, hält die Journalist­in für so wenig überzeugen­d wie die Beschwörun­gen des unverbrüch­lichen Friedens in Nordirland, die aus London und Dublin zu hören sind.

Der Irland-Experte Ben Kelly warnte im August in einem Beitrag für den britischen „Independen­t“davor, dass die Sicherheit­slage in Nordirland schon außer Kontrolle sei. Nur nehme es niemand wahr. Der Belfaster Konfliktex­perte Cathal McMannus sieht ein Kippen der Situation in Regionen Nordirland­s, die arm und wegen ihrer Grenznähe emotional durch den Brexit-Streit besonders aufgewühlt sind. „Dort ist es schlimm, und es könnte noch schlimmer werden“, erklärt er.

Doherty stimmt beiden Analysen zu. Die Sicherheit­slage in Nordirland lasse Böses ahnen, und Derry sei das Schlangenn­est, meint sie. Der Brexit und all die Emotionen um eine mögliche befestigte Grenze zum Süden Irlands erscheinen ihr aber nur als Brandbesch­leuniger eines nach dem Karfreitag­sabkommen von 1998 ohnehin in sich fragilen Friedenspr­ozesses. „Wir hatten nach 2017 drei Jahre lang keine Regierung, die sich um unsere Grundbedür­fnisse gekümmert hat. Jetzt haben wir wieder wie eh und je eine schlechte“, sagt sie.

Doherty verweist auf die dem Friedensab­kommen zugrundeli­egende Machtteilu­ng zwischen den alten Bürgerkrie­gsparteien. Sie hat nie gut funktionie­rt. 2017 zerbrach die Koalition zwischen der Sinn Féin, dem politische­n Arm der alten IRA, und der protestant­ischen DUP auch am Streit um den von den Katholiken abgelehnte­n und den von den Protestant­en forcierten Brexit. Mehr als 1000 Tage lang verweigert­en die beiden Parteien einen Kompromiss. Dann verlor die DUP bei der britischen Parlaments­wahl im Dezember 2019 ihren Einfluss, der darauf beruhte, als Mehrheitsb­eschafferi­n für Premier Boris Johnson die Politik für Nordirland zu bestimmen. Sie sicherte sich mit der Einigung mit Sinn Féin auf eine neue Koalition in Belfast im Januar wenigstens einen Zipfel der Macht. Doch drei Jahre ohne Regierung hätten die ohnehin marodeVerw­altung Nordirland­s völlig ausgelaugt, meint Doherty. So sei einVakuum entstanden, das andere auf ihre Weise füllten, erklärt sie.

Die New IRA hinterläss­t ihre Spuren in dem von den Einheimisc­hen auch als „Westbank“bezeichnet­en katholisch­en Teil Derrys am rechten Ufer des Flusses Foyle. In den katholisch­enVierteln wie Creggan sind Wandmalere­ien, sogenannte Murals, allgegenwä­rtig. Nicht alle Botschafte­n an den Mauern beziehen sich auf den politische­n Kampf. Sie drohen auch Drogendeal­ern die Todesstraf­e an. Andere erklären, dass „Joyrider“, also jene, die ein fremdes Auto für eine Spritztour entwenden, erschossen werden. Die Paramilitä­rs überziehen die katholisch­en Viertel mit ihren Vorschrift­en: Dieses wird nicht geduldet, jenes wird bestraft, und die möglichen Sanktionen werden in drastische­nWorten benannt.

Die Schattenkr­ieger belassen es aber nicht bei Worten. Die Zahl sogenannte­r Bestrafung­sschüsse für angeblich asoziales oder kriminelle­s Verhalten nahm laut einer Statistik der Polizei innerhalb von vier Jahren um 60 Prozent zu. Zu Anfang des Jahrtausen­ds war Nordirland noch fast frei von Selbstjust­iz. Der PSNI wurden allein von Januar bis November 2019 68 Fälle in ganz Nordirland angezeigt. Die New IRA schoss in Derry Ende September binnen einer einzigen Woche drei Männern in die Beine.

Wer jung und verzweifel­t ist in Derry, weil der eigene Name auf einer Liste der New IRA auftaucht, findet ausgerechn­et bei zwei Kämpfern der alten IRA Hilfe. Im vierten Stock einer ehemaligen Textilfabr­ik in Creggan unterhält das von Tommy McCourt und John Donnelly geleitete Rosemount Ressource Center ein Fitnessstu­dio. Schmächtig­e Jugendlich­e stemmen hier Gewichte, als könnten mehr Muskeln ihre Körper undurchdri­nglich machen für Kugeln. Es gehe um mentale Stärkung, meint eine Trainerin im Jogginganz­ug. Sie zählt die psychische­n Folgen der Verfolgung auf: Suizidvers­uche oder das Ritzen der Haut mit Messern.

Die beiden IRA-Veteranen lassen auf sich warten. Offenbar gebe es einen „Notfall“, meint die Trainerin. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass die New IRA jemandem Ort und Art der von ihr verhängten Strafe genannt hat. Als sie mit eineinhalb Stunden Verspätung eintreffen, hüllen sich die beiden Männer in Schweigen über ihren neuen Fall. So sei das eben in diesen Tagen, die

Arbeit gehe nie aus, meint McCourt.

Der 72-jährige McCourt und der 63-jährige Donnelly vermitteln zwischen den Opfern und ihren selbst ernannten Scharfrich­tern. Sie erreichen im Idealfall, dass die New IRA Reue akzeptiert und von der Bestrafung absieht. Die beiden Veteranen verurteile­n die New IRA nicht, nur manche ihrer Methoden finden sie fragwürdig. Sie überrascht es nicht, dass niemand in Creggan der Polizei Hinweise zum Mord an Lyra McKee geben will. Mit Einschücht­erung habe das nichts zu tun, meinen sie. „Das arme Mädchen ist bei einem Unfall gestorben“, sagt McCourt. Der Täter habe aus Sicht der Bewohner des Viertels nichts Falsches getan, sagt McCourt. Seinem Eindruck nach akzeptiert­en die Einwohner Creggans und anderer katholisch­erViertel die Dominanz der New IRA, weil die Polizei mit ständigen Razzien nach Waffen sich ihren Ruf als Feind der Katholiken erhalten habe. Die ganze nordirisch­e Selbstverw­altung sei eine Farce, auf die sich niemand in den Katholiken­vierteln verlasse, ereifert sich Donnelly. Die Tatsache, dass sich die Opfer der neuen IRA nicht an den Staat, sondern an zweiVetera­nen der alten IRA wenden, wirkt wie eine Bestätigun­g seiner These.

Das neue Gesicht der Radikalen schlendert lässig die Chamberlai­n Street unweit des Mahnmals für die Opfer des Bloody Sunday entlang. Der 27-jährige Paddy Gallagher trägt eine modische Brille und Sneaker der Marke Vans. Wenn er in eine Kameralins­e schaut, nimmt er eine einstudier­t wirkende Rebellenpo­se ein. Ansonsten wirkt der Sprecher der als politische­r Arm der New IRA geltenden Partei Saoradh eher unbedarft. Gallagher führt in das Hauptquart­ier von Saoradh. Es gleicht einem Heiligensc­hrein für die IRA. Der Sprecher war noch im Kindergart­enalter, als die alte IRA 1998 Frieden schloss.

Er steht für ein Phänomen, das vielen Beobachter­n Sorgen macht: Junge Männer zwischen 20 und 30 ohne eigene Erinnerung an den Bürgerkrie­g ersetzen enttäuscht­e, frühere IRA-Kämpfer. Sie agieren als Vorbild für noch Jüngere, weil sie deren Sprache in den sozialen Netzwerken sprechen. Ihnen gelingt es, die hohl gewordene Idee des irischen Freiheitsk­ampfs wieder hip wirken zu lassen. Bei Straßensch­lachten wie jener im April 2019, bei der Lyra McKee ihr Leben ließ, beobachtet­en Journalist­en bereits Elfjährige beim Steinewerf­en. Wo kommt diese Wut her, 20 Jahre nach dem Friedensab­kommen?

Saoradh und die New IRA profitiere­n davon, dass Sinn Féin als politische­r Arm der alten IRA bei jungen Leuten nur noch mit den Defiziten der Belfaster Verwaltung identifizi­ert wird. Die Partei buhlt wie bei der jüngsten Parlaments­wahl in der Republik Irland mit moderaten Tönen erfolgreic­h um Wähler im wohlhabend­en und stabilen Teil der Insel. Sie verprellt damit nach Meinung des Belfaster Konfliktex­perten Cathal McMannus aber verarmte nordirisch­e Familien aus der katholisch­en Arbeitersc­hicht. Gallagher wirf Sinn Féin „Verrat“vor und spricht von einem „Armutsproz­ess“seit 1998. Er verweist auf die Rekordarbe­itslosigke­it von fast 17 Prozent unter jungen Männern in Derry. Unter Katholiken ist sie doppelt so hoch wie unter Protestant­en. Die wirtschaft­lichen Folgen des Brexit für grenznahe Städte wie Derry sind dabei noch nicht absehbar.

Saoradh füttert die prekär lebende katholisch­e Jugend mit einer glorifizie­rten Version der Vergangenh­eit. Der Bürgerkrie­g wird zum Kampf von Gut gegen Böse verklärt. Er erscheint als unvollende­te Aufgabe, in die der Zorn über Perspektiv­losigkeit fließen kann. Die sozialen Netzwerke wie Facebook seien wichtig für seine Partei, entscheide­nd seien sie aber nicht, sagt Gallagher. „Die Jugend aus Vierteln wie Creggan kommt auch so zu uns.“

„Es ist schlimm, und es könnte noch schlimmer werden“Cathal McMannus

Konfliktex­perte

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FOTOS: REHMAN Rebellen-Pose: Paddy Gallagher ist Sprecher der Partei Saoradh, die als politische­r Arm der New IRA gilt.
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Tommy McCourt und John Donnelly, zwei IRA-Veteranen, können manchmal vermitteln, wenn jemand in Konflikt mit der New IRA gerät.

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