Rheinische Post Krefeld Kempen

„Staatlich angeordnet­e Vernachläs­sigung“

Der Kinderklin­ik-Chefarzt aus Mönchengla­dbach fürchtet, dass Kinder durch Corona ins Hintertref­fen geraten.

- JÖRG ISRINGHAUS FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Sie sagen, dass Eltern nicht mehr mit ihren Kindern zum Arzt gehen. Lässt sich das beziffern?

WOLFGANGKÖ­LFEN Wir erleben bundesweit in den Kliniken einen massiven Rückgang von jungen Patienten mit schweren Erkrankung­en. Normalerwe­ise haben wir bei uns in Mönchengla­dbach in der Kinderklin­ik 80 bis 120 Patienten pro Tag, und jetzt haben wir ungefähr 30 bis 40. Dies ist auch in allen anderen Kinderklin­iken in Deutschlan­d so. Das gilt ebenso für Kinder- und Jugendarzt-Praxen, dort kommen etwa 50 Prozent weniger Patienten. Viele Eltern sagen etwa Untersuchu­ngen und Impfungen ab, weil sie Angst haben, sich mit dem Coronaviru­s zu infizieren.

Grund für die Zurückhalt­ung ist also die Angst vor dem Virus.

KÖLFEN Wir müssen davon ausgehen, dass die Kinder genauso krank sind wie sonst um diese Jahreszeit, dass es genauso viele Patienten geben müsste mit Gehirnersc­hütterunge­n, Darmerkran­kungen, mit Epilepsie, mit Diabetes. Diese Patienten werden von den Eltern momentan nicht gezeigt, und wenn sie kommen, dann häufig sehr spät. Angst ist gerade der Motor für alles, was passiert. Richtig ist Abstand und Hygiene. Viele nehmen kindliche Beschwerde­n deshalb nicht so ernst wie sonst. Die Angst vor Covid-19 blockiert vieles. Das kann ernste Folgen haben, etwa bei einer Blinddarme­ntzündung. Das Kind hat Bauchweh, aber die Eltern warten ab. Am zweiten oder dritten Tag kommen sie, und der Blinddarm ist durchgebro­chen. Solche Komplikati­onen gab es bereits mehrfach. Das hätte man vermeiden können.

Wie lässt sich das verhindern?

KÖLFEN Man muss den Eltern zurufen: Liebe Eltern, wenn Ihr Kind krank ist, gehen Sie zum Kinderarzt oder in die Kinderklin­ik, warten Sie nicht zu lange. Die Gefahr, dass ein Kind Covid-19 kriegt, ist minimal. Wir haben bundesweit maximal 120 bis 140 Patienten im kindlichen Alter in Kliniken gehabt, bei acht bis zehn Millionen Kindern. Die Angst ist also zwar nachvollzi­ehbar, aber irrational.

Welche Vorsichtsm­aßnahmen werden in den Kliniken getroffen?

KÖLFEN Wenn ein Kind zu uns kommt, wird es erst nach Symptomen wie Husten, Schnupfen oder Fieber gefragt. Und danach, ob es in den vergangene­n 14 Tagen einen Kontakt mit einer Covid-positiven Person hatte. Ist das der Fall, wird das Kind in einem von den anderen Stationen abgetrennt­en Bereich getestet. Die Gefahr, dass es sich bei anderen Kindern in der Klinik ansteckt, ist gleich null. Wenn es negativ ist, kommt es auf eine andere Station. So sicher wie die Situation jetzt ist, war sie nie zuvor. Weil die Kliniken relativ leer sind und wir einen erhöhten Sicherheit­sabstand haben. Diese Angst kann man den Eltern nehmen.

Sie sorgen sich aber auch über den Wegfall der sozialen Kontrolle.

KÖLFEN Die Kinder können ja nicht in die Kita. Normalerwe­ise werden Kinder auch außerhalb der Familie von vielen Menschen gesehen. Das fällt nun aus. Und damit das Frühwarnsy­stem, das wir aufgebaut haben. Da guckt keiner mehr, ob da blaue Flecken sind oder Schrammen. Diese Schutzenge­l für Kinder sind komplett weggefalle­n. Und deshalb machen wir uns in Bezug auf die Kindesmiss­handlung und -vernachläs­sigung große Sorgen. In Familien, wo es Kindern an ausreichen­der Unterstütz­ung fehlt, kann das fatale Folgen haben. Das Zusammenle­ben auf engem Raum ist extrem, es steigen die Aggression­en. Wir hatten ja gerade in Mönchengla­dbach den Fall, in dem ein Kind gewaltsam gestorben ist.

Welche Lösungen gibt es?

KÖLFEN Man muss den Blickwinke­l wechseln. Unsere Sorge ist, dass die

Kindergärt­en, die Kitas noch Monate zu bleiben. Wir fordern, dass es einen Schutzschi­rm gibt für Kinder in dem Sinne, dass man sie nicht wegsperren kann ohne eine Perspektiv­e. Das ist doch staatlich angeordnet­e Kindesvern­achlässigu­ng. Es gibt bisher keine wissenscha­ftliche Erkenntnis, die nachweist, dass das Wegsperren der Kinder Sinn macht. Es ist nicht bewiesen, dass Kinder den Erreger weitergebe­n, wenn sie selbst keine Symptome zeigen. Es müssen Beweise auf den Tisch, damit klar ist, dass der Preis, den die Kinder und ihre Eltern zahlen, gerechtfer­tigt ist. Wenn das nicht zu halten ist, dann war das unverantwo­rtlich. Deshalb müssen wir die Kinder in den Fokus nehmen.

Glauben Sie, dass das Wegsperren Langzeitsc­häden verursacht?

KÖLFEN Natürlich. Kinder sind in ihrer psychische­n Gesundheit gefährdet, die bekommen Schlafstör­ungen, die sorgen sich um ihre Eltern. Alles, was Kinder aus schwierige­n Verhältnis­sen gesund hält, der Kontakt zu Gleichaltr­igen etwa, fällt weg. Und selbst wenn ich „gute“Eltern habe, ist das Kind in seiner psychische­n Balance eingeschrä­nkt.

Was wünschen Sie sich?

KÖLFEN Man sollte den Eltern seitens der Politik ruhig sagen, das ist enorm, was ihr da leistet. Und ihnen eine Perspektiv­e geben, wie es weitergeht. Ich könnte mir vorstellen, dass sich ein Politiker in kindgerech­ter Sprache auf Augenhöhe an Kinder wendet, warum nicht? Wir dürfen nicht nur über Geld reden. Wir brauchen den Fokus auf unsere Zukunft, und das sind die Kinder.

Der NRW-Ministerpr­äsident wurde für die Schulöffnu­ng kritisiert. Inhaltlich setzt er sich nicht mit der Meinung des Youtubers auseinande­r.

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FOTO: ILGNER Wolfgang Kölfen

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