Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Arbeitsmin­ister der Herzen

- VON REINHOLD MICHELS

Kein bundesdeut­scher Arbeits- und Sozialmini­ster war länger im Amt als Norbert Blüm. Er führte gegen Widerständ­e die Pflegevers­icherung ein und kämpfte für die Sozialrent­e. Den Kampf gegen eine heimtückis­che Krankheit verlor er.

BONN Das Ende war grausam. Vor 18 Monaten hatte ihn eine bakteriell­e Blutvergif­tung hingestrec­kt. Monatelang­e Klinikaufe­nthalte in Bonn und Köln, vorübergeh­end im Koma, der Priester bereits am Krankenlag­er. Auf das Diesseits bezogen: Hoffnungsl­osigkeit. Dann vor einigen Wochen Rückkehr ins vertraute Bonner Heim, Lähmung halsabwärt­s, dennoch leises Erwachen der Lebensgeis­ter und der Äußerungsl­ust eines Extroverti­erten. Doch schließlic­h musste er loslassen.

Wie kaum ein anderer Homo politicus maximus verkörpert­e Norbert Blüm Ernst und Heiterkeit; der kleingewac­hsene, mitunter drollig wirkende Rheinhesse mit Wohnort Bonn undVernied­lichungs-Spitznamen Nobbi ließ seiner lebenslang­en Lust zu Späßen aller Art auch und gerade vor Publikum freien Lauf. Als Messdiener schwenkte er zum Entsetzen des katholisch­en Pfarrers ein Weihrauchf­ässchen gefüllt mit Schwarzpul­ver.

Als Bundesmini­ster für Arbeit und Sozialordn­ung (1982-1998) ließ er sich vor dem Urlaubshäu­schen an einem verwunsche­nen finnischen See zur Freude der Illustrier­ten-Fotografen, die ihn und seine Frau Marita in der Einsamkeit aufgespürt hatten, rücklinks auf einem Stuhl sitzend ins Wasser plumpsen. TV-Showmaster Rudi Carrell verulkte ihn, und er ulkte zurück. Er machte einen Kopfstand und hielt dabei eine Rede. Er klebte Plakate mit der unvergesse­nen, zu Fehlinterp­retationen einladende­n Aussage „Eins ist sicher. Die Rente“. Enge Berater rauften sich oft die Haare: „Warum geben Sie die Ulknudel, Herr Minister, das schadet Ihnen.“Norbert Blüm winkte ab: Er, der hochrangig­e politisch Verantwort­liche mute manchen allerlei zu, da wolle er zeigen, dass er Mensch geblieben sei.

Ein Mensch in seinem Widerspruc­h war dieser Werkzeugma­cher und politische, vor allem sozialpoli­tisch grundierte Dr. phil. Er hielt deftige Parteitags­reden, bevorzugt gegen die aus seiner Sicht unchristli­chen Auswüchse des Kapitalism­us. Und er schrieb Kinder- und andere Bücher. Er ließ sich auf dem legendären Leipziger CDU-Bundespart­eitag 2003 von der damaligen Vorsitzend­en Angela Merkel und 99 Prozent der Delegierte­n demütigen. Seine Partei, der er seit 1950 angehörte, war für den IG Metaller, langjährig­en CDA-Sozialauss­chuss-Chef sowie zeitweilig­en Vorsitzend­en der CDU in NRW aufs rutschige neoliberal­e Zeitgeist-Surfbrett gestiegen. Anlässlich eines Interviews zu seinem 70. Geburtstag vor 14 Jahren sagte er unserer Redaktion: „Sie werden es sehen, in zehn Jahren hat der Neoliberal­ismus ausgedient.“

So wie sein ehemaliger Parlamenta­rischer Staatssekr­etär Horst Seehofer (CSU) stellte sich Blüm quer zur damals modischen Idee, die gesetzlich­e Krankenver­sicherung mit auf das Einkommen bezogenen Beiträgen radikal umzubauen und eine Kopfpausch­ale einzuführe­n. Wenn er dagegen wetterte, färbte sich die Gesichtsfa­rbe, so dass man um Nobbis Blutdruck fürchten musste. Eines seiner Bücher trägt den fordernden Titel: Verändert die Welt, aber zerstört sie nicht.“Krieg, Folter, Ausbeutung, Ungerechti­gkeit nahm er nicht zynisch hin, schon gar nicht als gottgegebe­n. Er war einerseits ein Skeptiker, was die Klugheit des

Homo sapiens betrifft; anderersei­ts ein Optimist, der es für zwingend und machbar hielt, dass der fehlerhaft­e Mensch selbst geschaffen­es Unheil auch wieder abschaffen könne (und müsse).

Norbert Blüm, der Ehemann (seit 1964), dreifache Vater und Opa, dachte als Politiker auch immer an die nächste Wahl; aber er hatte ebenfalls stets die nächste Generation im Blick und fragte sich: „Trägt das, was ich tue, über den Tag hinaus?“Blüm war ein Konservati­ver in Fragen von Ehe und Familie. „Ehe für alle“gehörte nie zu seinen Reformanli­egen. Ohne den Bundesmini­ster Blüm, den man als linken Konservati­ven verstehen musste, gäbe es die staatliche Pflegevers­icherung nicht: Er, der Vater dieses letzten Bausteins in der Säulenreih­e bedeutende­r Sozialrefo­rmen.

Schon äußerlich konnte der kompakte Mann den zupackende­n Typus nicht verleugnen. Man hatte bei dem ehemaligen Rüsselshei­mer Opel-Arbeiter stets das Gefühl, als trüge er selbst noch als Minister einen Schraubens­chlüssel bei sich. Anderersei­ts: Wer Norbert Blüm in seinem Bonner Südstadt-Haus, überhaupt in privater Runde traf, erlebte einen deutschen Homme de lettres, belesen wie wenige seiner Zunft, nachdenkli­ch, aber auch bei ernsten Gesprächen und Disputen über Gott und dieWelt immer zu einem Augenzwink­ern bereit.

Seine wunderbare Ehefrau Marita, die aus Willich stammt, hat der Abiturient des zweiten Bildungswe­gs bei einem berühmten Gelehrten im theologisc­hen Seminar an der Universitä­t Bonn kennengele­rnt: bei Professor Joseph Ratzinger, dem späteren Papst. Norbert Blüms 80. Geburtstag sollte auf Einladung des emeritiert­en Pontifex maximus in dessen vatikanisc­her Klause hinterm Petersdom verbracht werden. Leider mussten die Blüms ihre Flüge nach Rom kurzfristi­g stornieren, weil Benedikt plötzlich erkrankt war. Das Ehepaar machte, wie man so sagt, das Beste daraus und radelte ein paar gemütliche Tage mit Freunden durchs Sauerland. Nur ein Jahr später zog es den lebenslang­en Menschenre­chts-Aktivisten Richtung Balkan in das Flüchtling­scamp Idomeni. Der 81-jährige wollte unter Begleitung von Kameras ein Zeichen seines heiligen Zorns gegen die Sperrung der sogenannte­n Balkan-Route setzen. Blüm verbrachte eine ungemütlic­he Nacht im Zelt; man hielt dem Senior nicht nur, aber auch politische Gefallsuch­t vor.

Wegen noch ganz anderer Abenteuer des praktizier­enden Christenme­nschen und Menschenre­chts-„Anwalts“titulierte­n ihn Gegner wie Franz Josef Strauß einen Herz-Jesu-Marxisten. Blüm flog mit einem Geldkoffer zu Hilfsbedür­ftigen ins jugoslawis­che Kriegsgebi­et; er reiste wie ein außenpolit­ischer David nach Chile zum Diktator-Goliath und Menschensc­hinder Augusto Pinochet und bot ihm die Stirn. Mut vor Diktatoren­thronen bewies er im vordemokra­tischen Südafrika gegenüber Staatschef Pieter Botha. In Bonn und München tobten nicht nur Strauß, der im Sinne des deutsch-amerikanis­chen Bismarck-Verehrers Henry Kissinger Realpoliti­k auf dem internatio­nalen Parkett verfocht; aber auch Bundeskanz­ler Helmut Kohl, der seinem Nebenaußen­politiker die Reise nach Kapstadt untersagen wollte. Blüm verweigert­e den Gehorsam: „Und er fährt doch“, lautete eine Notiz im„Spiegel“, zu dem Blüm, zum Ärger Kohls, immerWin-Win-Kontakte hielt. Mit dem Kanzler der Einheit brach Norbert Blüm, als der einst so Bewunderte in die CDU-Spendenaff­äre geriet und das Parteigese­tz missachtet­e. Kohl hielt das für treuloses „Sich-in-die-Büsche-Schlagen“und „Verrat“; er strafte seinen längstgedi­enten Minister fortan mit kalter Verachtung. Blüms schriftlic­he Bitte um eine versöhnend­e Aussprache blieb unbeantwor­tet.

Blüm konnte schimpfen wie ein Rohrspatz, vor Zorn glühen und beben; aber er besaß, anders als Kohl, nicht die Begabung zur Feindschaf­t. Seine Hand blieb immer ausgestrec­kt, auch hier war er sozial und vor allem christlich.

„Er kannte Werkbank und Ministersc­hreibtisch. Sein Herz hat für die Menschen geschlagen, die das Land aufgebaut haben. Die Einführung der Pflegevers­icherung ist sein großes Verdienst.“

Angela Merkel (CDU) Bundeskanz­lerin

„In all den Jahren habe ich ihn als überzeugte­n Christdemo­kraten erlebt, und ich habe seine Überzeugun­gskraft und Lust an der streitbare­n Debatte sehr geschätzt.“

Wolfgang Schäuble (CDU) Bundestags­präsident

„Was ihn auszeichne­te, war eine humane Radikalitä­t, gepaart mit Witz. Als er aus der aktiven Politik ausgeschie­den war, lief er zu großer Form auf.“

Günter Wallraff

Schriftste­ller und Investigat­iv-Journalist

„Er kämpfte für die Schwächste­n und gab ihnen eine couragiert­e Stimme. Er war mutig gegenüber den Mächtigen. Sein Auftritt als Minister in Chile, als er gegenüber dem Diktator Pinochet offen Folter kritisiert­e, bleibt mir unvergesse­n.“

Armin Laschet (CDU) NRW-Ministerpr­äsident

„Er war ein Mensch, der die Prinzipien der katholisch­en Soziallehr­e nicht nur theoretisc­h beschworen, sondern im Rahmen des politisch Möglichen auch praktisch umgesetzt hat.“

Kardinal Reinhard Marx

„Norbert Blüm hat unser Unternehme­n mitgeprägt und wird als eine der Leitfigure­n unserer Berufsausb­ildung unvergesse­n bleiben.“

Ralph Wangemann Arbeitsdir­ektor von Opel

„Wir haben mit ihm über manche Frage der Wirtschaft­s- und Rentenpoli­tik gestritten. Dennoch haben wir größten Respekt vor seinen Verdienste­n um unser Land.“

Christian Lindner

 ?? FOTO: DPA ?? Der damalige Bundesarbe­itsministe­r Norbert Blüm (CDU) greift eigenhändi­g auf dem Bonner Marktplatz zum Leimpinsel, um das erste Plakat einer Informatio­ns-Aktion zur Sicherheit der Renten auf eine Litfaßsäul­e zu kleben.
FOTO: DPA Der damalige Bundesarbe­itsministe­r Norbert Blüm (CDU) greift eigenhändi­g auf dem Bonner Marktplatz zum Leimpinsel, um das erste Plakat einer Informatio­ns-Aktion zur Sicherheit der Renten auf eine Litfaßsäul­e zu kleben.

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