Rheinische Post Krefeld Kempen

„Schreiben ist geistiges Händewasch­en“

„Das verborgene Wort“schenken wir unseren Lesern als E-Book. Die Autorin erzählt darin von ihrer Monheimer Kindheit und Jugend.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Die Überraschu­ng war groß, als Ulla Hahn, eine der wichtigste­n Lyrikerinn­en unserer Zeit, vor knapp 20 Jahren ihren ersten Roman vorstellte: „Das verborgene Wort“– über ihre Kindheit in Monheim. Der Roman gewann 2002 den Deutschen Buchpreis und wurde in einem Zweiteiler auch verfilmt. Das Werk wollen wir unseren Lesern als E-Book schenken.

Vor fast 20 Jahren erschien Ihr erster, autobiogra­fisch gefärbter Roman, „Das verborgene Wort“. Könne Sie denn noch an den ersten Satz erinnern?

Das ist ja einfach. Der erste und übrigens auch der letzte Satz des Buches lautet: „Lommer jonn.“

Diese Aufforderu­ng des Großvaters kann man in Corona-Zeiten niemanden empfehlen, oder?

Doch, aber mit Maske bitte! Und zu Hause kann man in wunderschö­nen Büchern wunderschö­ne Reisen machen: im Kopf!

Was würde der Opa heute raten?

HAHN Et hätt noch immer jot jejange.

Ist das auch ein Lebensmott­o von Ihnen oder vielleicht eine positive Antwort auf unsere Gegenwart?

HAHN Unbedingt. Aber wir sind auch vorsichtig. Mein Mann und ich zählen ja beide zur sogenannte­n Risikogrup­pe. Wobei ich Menschenan­sammlungen noch nie bevorzugt habe. Also, wir passen auf und finden die Maßnahmen auch richtig.

Wie sieht Ihr Tag momentan aus?

Nach wie vor mache ich jeden Morgen meine Joggingrun­de. Ansonsten haben wir es ziemlich gut und werden jeden Samstag von einem Biomarkt gleich in der Nähe mit den herrlichst­en Dingen versorgt. Und die werden dann auch verantwort­lich sein für meine nächste Kleidergrö­ße.

Das glaube ich Ihnen nicht.

Doch, wirklich. Sie glauben ja gar nicht, wie wenig man geht, wenn man keine Besorgunge­n mehr macht. Und die machen wir aktuell ja nicht mehr. Aber klar, es gibt Menschen, die haben jetzt ganz andere, existenzie­lle Sorgen. Da kann ich überhaupt nicht klagen, auch wenn ich plötzlich, quasi von heute auf morgen, einer Risikogrup­pe zugeordnet werde. Was mich als Schriftste­llerin aber wirklich bedrückt ist, dass viele Leute auch in dieser Zeit nur noch Netflix schauen oder streamen. Die Kulturtech­nik des Lesens wird verdrängt von der sehr viel mühelosere­n Form, sich Geschichte­n vor allem über Bilder anzueignen

Können Sie sich noch ans Motto erinnern, dass Sie Ihrem Debütroman voranstell­ten? Ein uraltes, von einer Tafel aus Mesopotami­en: „Mit Schreiben und Lesen fängt eigentlich das Leben an.“

Und das ist immer noch richtig. Für mich auf jeden Fall.Was wäre ohne meine Liebe zu den Buchstaben aus mir geworden?

Setzen Sie sich mit der Gegenwart jetzt auch schreibend auseinande­r?

Das tue ich sowieso, weil ich Tagebuch schreibe. Schreiben heißt: sich befreien. Letzten Endes ist schreiben auch in diesen Tagen so etwas wie ein geistiges und emotionale­s Händewasch­en. Und das kann ich jedem nur empfehlen. Es ist etwas vollkommen anderes, etwas niederzusc­hreiben als nur darüber zu reden. Und beim Tagebuchsc­hreiben soll man bloß nicht darüber nachdenken, ob man nun die richtigen Worte wählt. Einfach schreiben. Wir haben ja im Deutschen die sehr schöne Formulieru­ng: sich etwas von der Seele schreiben. Darum waren für mich die vier autobiogra­fisch gefärbten Bände auch so wichtig: Den Ballast der Vergangenh­eit in Proviant umwandeln, nenne ich das. Jetzt hat die Gegenwart den Vorrang.

Was Ihr erster Roman für Sie ein Neuanfang im doppelten Sinne? Zum einen geht es darin um den Wunsch nach Aufbruch Ihrer Heldin Hilla Palm; zum anderen war es auch für Sie ein Aufbruch: Die bekannte Lyrikerin Ulla Hahn widmet sich der Prosa. War dazu auch Mut nötig?

Nein, ich habe in meinem Leben immer alles, was wichtig war, einfach gemacht. Ohne darüber nachzudenk­en warum und wofür und für wen usw. Schreiben als Selbstgesp­räch. „Das verborgene Wort“ist ja entstanden aus einer einzigen Geschichte. Ich bin damals von einer ostdeutsch­en Frauenzeit­schrift gefragt worden, ob ich eine Weihnachts­geschichte für sie schreiben könnte. Das habe ich gemacht, stark autobiogra­fisch. Damals habe ich zum ersten Mal gemerkt, was mir das bedeutet. Es hat dann noch eineWeile gebraucht, bis sich immer mehr Geschichte­n einstellte­n, und dann habe ich einfach angefangen.

Aber ich habe den Eindruck, dass Sie sich Ihre Kindheit und Jugend nicht nur von der Seele geschriebe­n haben, sondern dass Sie sich mit Ihren Büchern auch wieder eine neue Nähe zu Monheim und dem Rheinland erschriebe­n haben.

Unbedingt. Ich war viele Jahre ja so weit weg von Monheim. Aber indem ich mir auch die bösen Din

ge von der Seele geschriebe­n habe, konnte ich mich auch wieder meiner Heimatstad­t nähern. Ich habe dann aus dem Roman auch in Monheim vorgelesen. Dazu hatte man extra ein wunderschö­nes Spiegelzel­t errichtet, und es war rappelvoll. Hinterher hat mir der Bürgermeis­ter dann verraten, dass man vor dem Zelt zehn Polizisten in zivil postiert hatte, weil man mit Demonstrat­ionen gegen die vermeintli­che Nestbeschm­utzerin gerechnet hatte. Aber die Leute haben dann gesehen und gehört, dass ich gar nicht so schlimm bin.

Wie verbringen Sie denn Ihren 75. Geburtstag am Donnerstag?

Ach, wir hatten eine kleine Bötchenfah­rt geplant, einmal die Alster rauf und runter. Jetzt machen wir natürlich gar nix. Wir sind ja in eiserner Klausur. Wir machen also ein Fläschchen auf und stoßen dann auf die nächsten zehn Jahre an. Aber das wird alles nachgeholt – auch in Monheim.

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FOTO: JULIA BRAUN Die in Hamburg lebende Schriftste­llerin Ulla Hahn wird am 30. April 75 Jahre alt.

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