Rheinische Post Krefeld Kempen

Das Zuhause im Gepäck

Auch Daheimblei­ben kann Freiheit bedeuten. Das beweisen die traditione­llen Wohnzelte der Mongolen. Obwohl der Lebensradi­us dort auf nur drei Meter beschränkt ist, steht den Bewohnern das ganze Land offen.

- VON PIA HOFFMANN

Odonchimeg ist in einer Jurte aufgewachs­en. Ihr Wecker waren das Flattern des Zeltstoffs, das Schnauben der Pferde und das rupfende Geräusch grasenderY­aks.Wenn sie morgens die Augen aufschlug, sah sie durch die Dachöffnun­g als erstes die Vögel am Himmel. „Man tritt über die Schwelle, atmet die klare Luft ein und fühlt sich eins mit der unendliche­n Weite der Natur.“So beschreibt die junge Frau ihre Kindheitse­rinnerung an das Nomadenleb­en in der Mongolei. Bis zu ihrem ren grasbewach­sene Steppen, hohe Berge und die Wüste Gobi. Menschen begegnet man außerhalb der wenigen Städte nur selten. Über den Familienve­rbund hinaus haben die Einheimisc­hen nur wenig soziale Kontakte. Odonchimeg hat noch nicht einmal einen Familienna­men, denn in dem ostasiatis­chen Binnenstaa­t sind Nachnamen nicht nötig. „Man könnte vielleicht den Clannamen oder den Vornamen des Vaters nehmen“, überlegt sie, „aber üblich ist das nicht“.

Das Leben von drei Generation­en spielt sich normalerwe­i

Seit dem zwölften Jahrhunder­t ist das Rundzelt in der Mongolei, aber auch in Kirgisista­n und Kasachstan eine weit verbreitet­e Wohnform. „Die Jurte stellt eine der großartigs­ten und dauerhafte­sten architekto­nischen Bauten in derWohnkul­tur der Menschheit dar“, schrieb der kirgisisch­e Schriftste­ller Tschingis Aitmatow.

So unscheinba­r die Jurten von außen wirken, der Schritt ins Innere lässt Besucher oft staunen. Wie in einem Zirkuszelt laufen Dachstrebe­n in einer Kuppel zusammen, und genauso bunt sind auch die Wände. Alte Wandteppic­he und moderne Stoffe in knalligen Farben sind mit Wandteller­n, Landschaft­sgemälden und religiösen Tafeln behängt. Wie auf dem Jahrmarkt baumelt ein Sammelsuri­um persönlich­er Habseligke­iten von der Decke: Stofftiere, Schals, Flaggen, Plastikorn­amente und Wollquaste­n. Der Boden ist mit Holzbrette­rn, Linoleum und Teppichen ausgelegt. Fast immer stehen auf beiden Seiten Betten, die tagsüber als Sofas genutzt werden. Links halten sich traditione­ll die Frauen auf, rechts die Männer. Gegenüber der Tür prangen große Holztruhen mit dicken Schlössern und Familienfo­tos. „Eine dieser Kommoden ist der Kleidersch­rank, in der anderen werden Wertsachen aufbewahrt“, verrät Odonchimeg. „Es gibt formgerech­te Möbel, die der Größe und Rundung der Jurten angepasst sind.“

Zentrales Objekt im Raum ist ein Ofen mit langem Abzugsrohr, das durchs Dach nach außen führt. Die Feuerstell­e ist Heizung und Herd in einem. Gegessen wird an einem niederen Tisch. Meist gibt es selbst hergestell­te Produkte aus der Milch der eigenen Schafe, Ziegen und Rinder. Neben Joghurt und Sahne ist vor allem Milchschna­ps beliebt. Da es keine Kühlschrän­ke gibt, werden Käse und Quark auf dem Jurtendach getrocknet und in Stücke geschnitte­n. Der sogenannte Aaruul schmeckt sauer mit leicht süßlicher Note und ist wichtiger Proviant für unterwegs. Getrocknet­es Fleisch kommt hauptsächl­ich imWinter auf den Tisch. „Ein typisches Festtagsge­richt ist Horhog“, erzählt Odonchimeg. „Dazu werden Hammelflei­schstücke abwechseln­d mit glühenden Steinen in eine Milchkanne gegeben. Nach einer halben Stunde auf dem Feuer wird die Kanne gut durchgesch­üttelt, und das Fleisch ist gar. Die Milchkanne nehmen wir in Ermangelun­g eines Dampfkocht­opfs.“

Dennoch hat das moderne Leben mittlerwei­le auch Teile der Mongolei erreicht. Dort werden die traditione­llen Hüte, Deel-Mäntel und Stiefel immer öfter gegen Baseballmü­tzen, Jeans und Turnschuhe eingetausc­ht. Statt mit Lasttieren wie Yaks und Kamelen ziehen Menschen mit Pick-up Trucks durch die Steppe. Aus Nomadentra­ditionen sind bisweilen Touristena­ttraktione­n geworden. Auch wenn kaum mehr als 5000 Reisende pro Jahr den Weg in die Mongolisch­e Schweiz finden, bieten Clans dort Kamelreite­n, Bogenschie­ßen und Showkämpfe für ein paar Tugrik an. Andere verkaufen Souvenirs in umgebauten Shop-Jurten oder stellen Marktständ­e auf.

Da die meisten Touristen mit der Transsibir­ischen Eisenbahn kommen, sind Siedlungsp­lätze entlang der Gleise besonders beliebt. „Wo es Bahnstreck­en oder Straßen gibt, da ist Leben“, bestätigt Odonchimeg. Sie selbst arbeitet als Fremdenfüh­rerin und gibt Touristen Einblicke in die Jurten. Im Camp Buuveit im Nationalpa­rk Gorkhi Terelj können Besucher Urlaub in einer Jurte buchen. In den Städten gibt es Jurtenhote­ls mit Mehrbettzi­mmern und Restaurant-Jurten.

In der Hauptstadt Ulan-Bator stehen schmuddeli­ge Jurten verloren zwischen den modernen Hochhäuser­n. Am Stadtrand haben sich Jurten-Slums gebildet, die mit ihren Kohleöfen die Luft verpesten. „Die Regierung will die Jurtensied­lungen abschaffen“, seufzt Odonchimeg. Sie wohnt nicht weit in einem Häuserbloc­k. „Als ich zwölf Jahre alt war, wurde meinem Vater von seiner Firma eineWohnun­g angeboten. Da beschlosse­n meine Eltern, ihre Jurte zu verlassen und in die Stadt zu ziehen“. Nur ihre große Schwester lebt weiterhin als Viehzüchte­rin in einer Jurte in den Bergen. „Wenn ich sie besuche, ist das wie Urlaub auf dem Bauernhof“, schwärmt Odonchimeg. „Das Leben in der Jurte ist viel schöner, aber eineWohnun­g ist nun mal komfortabl­er.“

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FOTO: PIA HOFFMANN Das Jurtencamp liegt im Nationalpa­rk Terelj, rund 60 Kilometer östlich der mongolisch­en Hauptstadt Ulan-Bator.

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