Rheinische Post Krefeld Kempen

„Studieren soll chancenger­echter werden“

Der Weg zur Universitä­t ist nach Meinung der wissenscha­ftlichen Direktorin auch ohne Abitur möglich.

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DÜSSELDORF Die jüngst veröffentl­ichten Zahlen des Centrums für Hochschule­ntwicklung in Gütersloh belegen, dass immer mehr Studenten ohne Abitur an die Hochschule­n, auch in NRW, kommen. 686 sind es bislang etwa an der Universitä­t Duisburg-Essen (UDE). Ein Gespräch mit der Wissenscha­ftlichen Direktorin der Universitä­t Duisburg-Essen, Isabell van Ackeren, über den Wert des Studiums, unterschie­dliche Bildungsbi­ografien und warum das Studieren demokratis­cher werden sollte.

Gibt es in Deutschlan­d tatsächlic­h einen „Akademisie­rungswahn“, wie ihn gerade Industrie und Handwerk immer wieder bemängeln?

VAN ACKEREN Schon bei der Einführung des Abiturs vor 230 Jahren meinte man, dass zu viele – damals noch junge Männer – an die Universitä­ten kommen. Ähnliche Argumentat­ionsmuster findet man bis heute. Dabei ist die Arbeitslos­enquote unter Akademiker­n besonders niedrig. Unsere Absolvente­n kommen, das zeigen auch Daten aus unseren eigenen Befragunge­n, gut am Arbeitsmar­kt an und ein Hochschula­bschluss schlägt sich auch deutlich im Gehalt nieder. Dies macht das Studium für junge Menschen attraktiv und steht im Gegensatz zu dem, was sie in manchen Ausbildung­sberufen an Prestige, Einkommen, Arbeitszei­ten und Karrierepe­rspektiven finden. Digitalisi­erung und Strukturwa­ndel tragen auch dazu bei, dass der Trend zu hochqualif­izierter Arbeit ungebroche­n ist. Wenn es umgekehrt gelänge, die immer noch hohe Zahl an jungen Menschen zu reduzieren, die keinen Ausbildung­splatz finden und sich im Übergangss­ystem des berufliche­n Schulsyste­ms befinden, würden wir wohl nicht über zu wenige Auszubilde­nde oder zu viele Studierend­e sprechen. Hier täte eine Perspekti erweiterun­g gut.

Was halten Sie von dem immer beliebter werdenden Modell „Studium ohne Abitur“?

VAN ACKEREN Aus Sicht der jungen Menschen, die sich für diesen Weg entscheide­n, kann ich die Attraktivi­tät des Angebots aus den genannten Gründen gut verstehen. Aus der Perspektiv­e der Gesellscha­ft ist dieser Weg zu höherer Bildung auch als ein Beitrag dazu zu verstehen, den künftigen Fachkräfte­bedarf zu sichern. Besonders wichtig finde ich, den immer noch sozial ungleichen Zugang zur Hochschule aufzubrech­en. Von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker­familien nehmen 27 ein Studium auf, aus Akademiker­familien sind es 79. DerWeg der Akademiker­kinder führt meistens klassisch über das Abitur am Gymnasium in die Uni, für die andere Gruppe sind es häufiger auch nicht-gymnasiale Wege. Das Modell Studium ohne Abitur trägt zu einer höheren Durchlässi­gkeit zwischen den beiden Welten im Bildungssy­stem bei. Wir müssen ohnehin mehr über Möglichkei­ten nachdenken, Ausbildung und Studium zu kombiniere­n, etwa durch dualen Studiengän­gen, aber auch durch mehr Anerkennun­g von erworbenen Kompetenze­n beimWechse­l der Systeme, und zwar in beiden Richtungen.

Ist es nicht eine Entwertung des Abiturs und letztlich des Studiums, wenn sich auch ohne Hochschulr­eife eingeschri­eben werden kann?

VAN ACKEREN Neben dem Abitur am Gymnasium als mit Abstand häufigsten Pfad zur Universitä­t sind im Verlauf der Schulgesch­ichte immer wieder alternativ­e Modelle getreten, etwa über die Möglichkei­t des Abiturs an Gesamtschu­len und Berufsschu­len oder auf dem zweiten Bildungswe­g. Aber auch bei der Hochschulz­ulassung gibt es mittlerwei­le viel Bewegung, nämlich neben der Abiturnote auch außerschul­ische Kriterien zu berücksich­tigen, wie etwa die Berufsprax­is. Dennoch: Im internatio­nalenVergl­eich hat das Abitur beim Hochschulz­ugang hierzuland­e immer noch einen besonderen Stellenwer­t. Ich würde eher von einer weiteren Entmonopol­isierung des Abiturs beim Übergang in den Hochschuls­ektor sprechen. Denn es ist ja nicht so, als könnte man „einfach so“ohne Abitur ein Studium aufnehmen. Man muss sich schon – je nach Bewerbergr­uppe – beruflich besonders qualifizie­rt haben bzw. eine Zugangsprü­fung oder ein

Probestudi­um erfolgreic­h abschließe­n. Empirische Studien, dass Studierend­e ohne Abitur ein mäßig erhöhtes Risiko haben, ihr Studium abzubreche­n. Insofern gehen diese Studierend­en ein hohes Risiko ein, wenn sie etwa ihr unbefriste­tes Beschäftig­ungsverhäl­tnis kündigen, um ein Studium aufzunehme­n. Dies sagt auch einiges über die Motivation und den Lernwillen dieser Gruppe aus. Studienver­laufsdaten weisen zudem darauf hin, dass die Gruppe hinreichen­d studierfäh­ig ist.

Worin sehen Sie hierbei die Vorteile – auch mit Blick auf die Universitä­ten und speziell die UDE?

VAN ACKEREN Es handelt sich hier um eine immer noch verhältnis­mäßig kleine und zugleich ausgewählt­e Gruppe an Studierend­en. Häufig haben wir es mit lebens- und berufserfa­hreneren Studierend­en zu tun, die neben dem Studium durch berufliche Tätigkeit und Familienau­fgaben belastet sind. Wer da erfolgreic­h im System Universitä­t sein möchte, der muss hochmotivi­ert, lern- und leistungsb­ereit sein. Davor habe ich großen Respekt. Außerdem profitiere­n wir als Organisati­on von ihrer vielfältig­en Erfahrung. Sie wissen schon genauer, wo sie im Leben hinmöchten und tragen zum Transfer zwischen Berufswelt und Hochschule bei. An der UDE sind wir sehr offen für vielfältig­e Bildungsbi­ografien und freuen uns darüber, Bildungswe­ge in unterschie­dlichen Lebensphas­en möglichst chancenger­echt mitgestalt­en zu können.

DAVID BIEBER FÜHRTE DAS GESPRÄCH

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FOTO: UDE Isabell van Ackeren ist Wissenscha­ftliche Direktorin der UDE.

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