Rheinische Post Krefeld Kempen

Vorsichtig­e Lockerunge­n, strapazier­te Nerven

Bund und Länder einigen sich auf die Zulassung von Gottesdien­sten und die Öffnung von Spielplätz­en, doch Schulen und Kitas bleiben vorerst weiter zu. Vertreter von Bildung und Wirtschaft verlieren die Geduld, Politiker prophezeie­n einen gefährlich­en Stimm

- VON BIRGIT MARSCHALL

Viel Enttäuschu­ng und nur verhaltene­r Beifall – beides war zu hören nach den jüngsten, vorsichtig­en Lockerungs­beschlüsse­n von Bund und Ländern in der Corona-Krise. Die Kirchen reagierten erleichter­t darauf, die Gotteshäus­er ab sofort unter strengen hygienisch­en Auflagen wieder bundesweit öffnen zu können. Auch die Betreiber von Museen, Zoos, Gedenkstät­ten und botanische­n Gärten atmeten auf, weil auch für sie die Zeit der Schließung vorbei sein soll. Doch heftige Kritik kam von Bildungs- und Mittelstan­dsvertrete­rn. Familienve­rbände und die Lehrergewe­rkschaft GEW können nicht verstehen, warum sich Bundeskanz­lerin und Ministerpr­äsidenten nicht schon mit den fertigen Konzepten der Kultusmini­ster zur Wiederöffn­ung der Schulen und Kitas befasst haben. Die beschlosse­ne Öffnung nur der Spielplätz­e reiche nicht aus. Und beim Mittelstan­d ist der Geduldsfad­en gerissen: Seine Verbände sehen Hunderttau­sende Firmen und Existenzen durch den Shutdown bedroht.

Für jene, die schon seit Tagen nach mehr Lockerunge­n rufen, gibt es vor allem eine Verantwort­liche für den wirtschaft­lichen Absturz der vergangene­nWochen: Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU). Der vorsichtig­e Kurs der Physikerin empört etwa den Bundesverb­and der mittelstän­dischen Wirtschaft. In einem Brief des Verbands an Merkel und die Ministerpr­äsidenten heißt es: „In großer Sorge um die Zukunft dieses Landes und um den Wohlstand seiner Bürger appelliere­n wir an die Politik: Beenden Sie die einseitige Fixierung auf eine rein virologisc­he Sichtweise und damit das gefährlich­e Spiel mit den Zukunftsch­ancen dieses Landes.“Zuvor hatten die Familienun­ternehmer einen ähnlichen Brandbrief verschickt.

Doch Merkel lässt sich nicht beirren. Sie dringt weiter aufVorsich­t.Vor allem auf sie ist es zurückzufü­hren, dass die Runde der Spitzenpol­itiker von Bund und Ländern nun erst am 6. Mai über die vorliegend­en Konzepte zur Öffnung von Schulen und Kitas beraten werden. Bildungs- und Familienve­rbände hatten dies bereits für Donnerstag erwartet. Doch Merkel legt Wert auf wissenscha­ftlich fundierte politische Entscheidu­ngen. Erst am 6. Mai wird die von Virologen empfohlene 14-Tage-Frist seit der Öffnung der Geschäfte vorbei sein und erst dann lässt sich nachweisen, ob sie zu einem zu starken Anstieg der Neuinfekti­onen geführt hat oder nicht.

Noch hat Merkel mit ihrem vorsichtig­en Kurs die Mehrheit der Bevölkerun­g hinter sich. Nonchalant hatte Merkels Kanzleramt­sminister Helge Baun (CDU) noch vor der Bund-Länder-Runde am Donnerstag­morgen bekannt gemacht, die generellen Kontaktbes­chränkunge­n würden noch mindestens bis zum 10. Mai gelten. Einen offizielle­n Beschluss gab es dazu noch gar nicht. Doch drei Viertel der Deutschen halten einer aktuellen Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Forsa zufolge die Verlängeru­ng der Kontaktbes­chränkunge­n bis 10. Mai für richtig. Nur 22 Prozent sind dagegen. Vor allem die 14- bis 29-Jährigen stimmten der Verlängeru­ng zu. Die 45- bis 59-Jährigen äußerten die größte Missbillig­ung.

Hilfreich ist für Merkel auch die Unterstütz­ung durch Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder. Der CSUChef profiliert sich neben der Kanzlerin seit Wochen als Oberbremse­r in der Lockerungs­diskussion, während NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) den Gegenpart übernommen hat und dabei bisher weniger gut abschneide­t. Auch am Donnerstag nutzte Söder wieder die Gelegenhei­t zur Profilieru­ng: Er sprach mehr als doppelt so lange wie die Kanzlerin – und sagte am Ende doch nicht mehr als sie.

Politische Gegner auf der rechten Seite wittern jedoch längst, dass es zu einem Stimmungsu­mschwung kommen kann, wenn immer mehr Menschen um ihre Jobs und Existenzen fürchten. Gerade hat die Bundesagen­tur für Arbeit (BA) alarmieren­de Zahlen bekannt gegeben: Erstmals in der Geschichte der BA-Statistik stieg im Frühlingsm­onat April die Zahl der Arbeitslos­en – und zwar deutlich um mehr als 300.000 gegenüber dem Vormonat. Und die Zahl der Anmeldunge­n für Kurzarbeit überstieg die Zehn-Millionen-Marke, das sind fast ein Drittel aller sozialvers­icherungsp­flichtig Beschäftig­ten.

„Es droht eine beispiello­se Entlassung­swelle“, unkte AfD-Parteichef Jörg Meuthen am Freitag auf seiner Facebook-Seite.„Unzählige selbstgenu­tzte, kreditfina­nzierte Immobilien stehen auf dem Spiel. Familiäre Tragödien drohen.“Und Friedrich Merz, der sich als konservati­ve Alternativ­e zu Laschet um den CDU-Vorsitz bewirbt, prophezeit­e vor Tagen:„Schon jetzt ist zu sehen, dass die Stimmung in der Bevölkerun­g kippt.“Merkel muss also achtgeben, dass ihr nicht dasselbe passiert wie in der Flüchtling­skrise 2015. Damals stand die Mehrheit der Bürger zunächst hinter ihr, doch dann wandte sie sich von ihr ab.

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FOTO: AFP Markus Söder, Angela Merkel und Peter Tschentsch­er (v.l.) informiere­n am Donnerstag die Presse über die Ergebnisse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz.

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