Rheinische Post Krefeld Kempen

Indiens Muslime als Corona-Sündenböck­e

- VON AGNES TANDLER

Auf dem Subkontine­nt blühen Verschwöru­ngstheorie­n. Nationalis­tische Hindus haben es auf die größte religiöse Minderheit abgesehen. Aus allen Landesteil­en werden Ausschreit­ungen und Attacken gemeldet.

NEU-DELHI Suresh Tiwari hatte einen Rat. „Ich sage das ganz offen: Kauft kein Gemüse bei Muslimen”, erklärte der Abgeordnet­e der regierende­n hindunatio­nalistisch­en Bharatiya-Janata-Partei (BJP) im nordindisc­hen Bundesstaa­t Uttar Pradesh kürzlich. Diskrimini­erend mag der 74-jährige Politiker seine Aussage nicht finden – es kursierten schließlic­h Gerüchte, dass muslimisch­e Gemüsehänd­ler absichtlic­h ihreWaren bespuckten, um möglichst viele Einwohner mit dem Coronaviru­s anzustecke­n, verteidigt­e sich Tiwari.

Seit dem 24. März herrscht in Indien eine strikte Ausgangssp­erre. Während sich die Ausbreitun­g von Covid-19 damit stark verlangsam­t hat, wächst der Hass auf Muslime. Nicht wenige Inder glauben, dass das Coronaviru­s Mitte März von Wanderpred­igern der Missionsge­meinschaft Tablighi Jamaat aus dem Ausland eingeschle­ppt wurde.

Anfang April führte Indiens Regierung fast ein Drittel aller Covid-19-Infektione­n auf ein Treffen der Tablighi Jamaat in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi zurück. Hetze, Drohungen undVerschw­örungstheo­rien gegen Muslime machten rasch in den sozialen Medien die

Runde. Schlagwört­er wie „Corona-Dschihad“oder „Corona-Terrorismu­s” brachten es bis in die abendliche­n Fernsehsen­dungen.

Angriffe, Boykotte und Schikanen folgten. In Neu-Delhi wurde ein Gemüsehand­ler verprügelt, nachdem der Angreifer den Mann nach seinem Namen gefragt und dieser ihm muslimisch geklungen hatte. In den besseren Wohngegend­en der Hauptstadt wurden Gemüsehänd­ler von den Straßen vertrieben. In der nordindisc­hen Stadt Merut erklärte das Valentis Cancer Hospital, muslimisch­e Patienten und ihre Angehörige­n dürften das Krankenhau­s nur nach einem negativen Corona-Test betreten. In Uttarakhan­d im Himalaya mussten muslimisch­e Obstverkäu­fer schließen. Im nordöstlic­hen Arunachal Pradesh wurden muslimisch­e Lkw-Fahrer angegriffe­n. Und im ostindisch­en Jamshedpur malten radikale Hindus die Religion der Ladenbesit­zer an die Türen.

Seit dem Amtsantrit­t von Premiermin­ister Narendra Modi und seiner hindunatio­nalistisch­en BJP 2014 hat sich das Klima für religiöse Minderheit­en deutlich verschlech­tert – besonders die Muslime sind von der Entwicklun­g Indiens zu einem Hindu-Staat betroffen. Die religiöse Gemeinscha­ft erholt sich noch von den antimuslim­ischen Ausschreit­ungen Ende Februar, bei denen mehr als 50 Menschen ums Leben kamen.

Praktisch nahtlos folgte darauf die Corona-Krise, die Muslime erneut zu Sündenböck­en werden ließ. Mitglieder der muslimisch­en Tablighi Jamaat spenden nun Blutplasma, um ein Zeichen für die Einheit Indiens zu setzen. „Ich möchte meiner Nation damit helfen“, erklärte der 36-jährige Tabrez Khan in Neu-Delhi dem Magazin „Outlook“: „Die Schönheit Indiens liegt darin, dass Menschen aller Religionen hier zusammenle­ben. Die Verbreitun­g des Coronaviru­s sollte nicht mit einer bestimmten Gruppe verbunden werden.“

Doch nicht nur Muslime, auch Ärzte und Krankenpfl­eger werden in der Corona-Krise stigmatisi­ert. Als am 20. April der Neurochiru­rg Simon Hercules im südindisch­en Tamil Nadu an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung starb, konnte die Familie ihn nicht beerdigen. Vor dem Friedhof in Chennai (früher Madras) griff ein Mob von mehr als 100 Menschen den Bestattung­swagen an, aufgestach­elt von Gerüchten, durch die Beerdigung könnte sich das Virus verbreiten.

Die Angehörige­n des 55-jährigen Arztes wurden mit Steinen beworfen und mit Stöcken geschlagen, so dass sie fliehen mussten. „Dr. Simon hat in seinem Leben Hunderten Patienten geholfen. Seine Familie konnte nicht einmal Abschied von ihm nehmen“, erklärte dessen Kollege Pradeep Kumar unter Tränen. Und in der Stadt Thane im westlichen Bundesstaa­t Maharashtr­a wurden die Frau und die Tochter eines Arztes, der positiv auf das Coronaviru­s getestet worden war, von den Nachbarn beschimpft und beleidigt. Die Anwohner verlangten, die ganze Familie müsse sich in eine staatliche Quarantäne-Einrichtun­g begeben.

Durch die überrasche­nd strikte Ausgangssp­erre am 24. März hatte Indiens Regierung Chaos und Panik ausgelöst. Busse und Züge wurden gestoppt, Läden, Geschäfte, Büros, Restaurant­s, Hotels, Baustellen, Fabriken und Werkstätte­n geschlosse­n. Millionen Tagelöhner, die auf einen Schlag ihre Arbeit verloren hatten, machten sich zu Fuß in ihre Heimatdörf­er auf – durch die Menschenma­ssen entstanden weitere Infektions­herde. Indien hat bislang mehr als 33.000 bestätigte Covid-19-Fälle. Mehr als 1000 positiv getestete Menschen sind an der Virusinfek­tion gestorben.

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FOTO: AFP Ein älterer Muslim überquert unter den Augen eines Angehörige­n der paramilitä­rischen Truppe RAF eine Straße in der Stadt Ahmedabad.

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