Rheinische Post Krefeld Kempen
Der Homo digitaliensis – aus dem Corona-Tagbuch
Die Schule soll digitaler werden, mit mehr Laptop und weniger Sätzen wie: Kevin, leg das Handy weg! Kann das gutgehen?
Das flaue Gefühl vieler Abiturienten bei der Aussicht, ohne Begleitung ihrer Lehrer in die Prüfungen zu müssen, ist auch eine Art Liebeserklärung an das, was Lehrer leisten. Die Sorge, viele Schüler könnten nach Wochen ohne Unterricht richtungslos durch den Tag trudeln wie Motten um das Licht der Erkenntnis, ist ja berechtigt. Der Schulvormittag gibt dem Denken Richtung. Nicht jeder Schüler kommt damit klar, wenn plötzlich die Leitplanken des Lehrerhandelns fehlen – und damit Sätze wie: Kevin, leg das Handy weg! Unterhalb der Sacharbeit gibt es eine Schicht aus erzieherischem Handeln, die viel zu oft kaum gewürdigt wird: die Stiftung eines Raums mit vielen Regeln, die Sacharbeit überhaupt erst möglich machen. Unterricht ist eben die Kunst, einen Sack Flöhe zu hüten und mit ihnen „Faust“zu lesen. Fällt der Sack weg, ist der Floh frei zu springen, wohin er will. Man darf vermuten: Zu oft landet er nicht am Schreibtisch der Vernunft.
Die Debatte driftet gerade in eine technische ab. Als ob alles gut wäre, wenn die letzte Schule vernetzt ist. Dieses digital organisierte Lernen ist zuallererst eine Herausforderung für die Schüler: Sie müssen selbstorganisiert arbeiten. Der schönst Download nützt aber nix, wenn am Ende das Handy so machtvoll ruft wie der Klondike die Goldsucher.
Man kann mit Fug und Recht fragen, ob die Schülerschaft mit ihren reichen Möglichkeiten, die sonst im Unterricht vom Lehrer erzwungene Konzentration wieder zu dezentrieren, auf digitales Lernen vorbereitet ist. Konzentrations- und Lesefähigkeit nehmen erwiesenermaßen ab; Pädagogen wie der Bonner Didaktiker Volker Ladenthin warnen schon lange vor einem Verlust an Wissenschaftsfähigkeit ganzer Generationen: wegen der fatalen Mentalität, sich Wissen vermeintlich einfach aus dem Internet ’runterzuladen, statt es sich zu erarbeiten.
Corona ist, so gesehen, eine Falle: Die Digitalisierung erscheint plötzlich nicht als Notbehelf, sondern als Heilsweg. Es gilt aber, misstrauisch zu bleiben. Technik ist klasse, aber nie der Königsweg zu richtigem Denken. Schüler mit Laptop haben erst einmal nur einen Laptop vor dem Kopf wie andere ein Brett. Lernen, sich konzentrieren, lesen mit Verstand – das muss auch der Homo digitaliensis immer noch höchstselbst mit Willen, Biss und seinen kleinen grauen Zellen bewerkstelligen. Man kann es auch so sagen: Der beste Laptop ist immer noch ein guter Lehrer. Besser, wir vergessen das nicht.
JENS VOSS