Rheinische Post Krefeld Kempen

Ist das krass

Bildung sei das beste Mittel gegen Rechtsextr­emismus, heißt es. In den KZ-Gedenkstät­ten aber stellen Schüler vermehrt revisionis­tische Fragen. Lernen sie genug aus dem Holocaust? Unterwegs mit Abiturient­en.

- VON HENNING RASCHE

LOHHEIDE/LÜBBECKE Mareike Buhrke klickt auf ihrem Macbook herum. Irgendetwa­s klappt nicht, ständig ist ein Foto von ihrer Hochzeit zu sehen. Als sie eben sagte, dass es jetzt sehr persönlich werde, meinte sie eigentlich etwas anderes. Die Geschichts­lehrerin Buhrke will an die Gefühle ihrer Schüler heran.

An einem Dienstag im Februar sitzen elf Jungen und neun Mädchen in einem Zimmer, und es ist das Normalste der Welt. Energydrin­ks und Thermobech­er mit Filterkaff­ee stehen auf den Tischen, darunter Sneaker bekannter Marken. Ein großer Bildschirm zeigt die Uhrzeit an, darüber steht Amsterdam, so als wisse das Gerät bereits, worum es hier gleich geht.

Nacheinand­er tauchen Fragen auf dem großen Bildschirm auf. Was verbinden Sie mit dem Ort Bergen-Belsen? Mit welchen Gefühlen fahren Sie dorthin?Was erwarten Sie von der Exkursion? Und dann, um 9.55 Uhr, die Frage: Mal ehrlich, interessie­rt Sie das Thema Holocaust überhaupt?

Der Grundkurs Geschichte des Wittekind-Gymnasiums in Lübbecke tippt nach jeder Frage auf Handys herum. Das Eingetippt­e landet auf dem Bildschirm: „Nichts“, „Leid“, „Diskrimini­erung“, „tragisch“, „Übelkeit“, „Mitleid“, solche Sachen. Noch bevor in Deutschlan­d irgendjema­nd den Unterschie­d zwischen Pandemie und Epidemie verstanden hat, kommunizie­ren Schüler und Lehrer ganz bekömmlich über das Internet.

75 Jahre ist es her, dass die Alliierten die deutschen Konzentrat­ionslager der Nationalso­zialisten befreit haben. Und nun sitzen Abiturient­en eines deutschen Gymnasiums vor einem Handy und denken darüber nach, ob sie, mal ehrlich, der Holocaust überhaupt interessie­rt. Zwölf sagen: Ja, sehr. Zwei sagen: Geht so. Die anderen haben kein Handy dabei.

In Deutschlan­d war es lange Zeit ziemlich egal, ob man sich gern mit dem Holocaust beschäftig­t. Erst, weil viele es nicht gerne sahen, dann, weil man musste. In den ersten Jahrzehnte­n der Bundesrepu­blik waren die Verbrechen der Nazis ein Tabuthema. Ab den 68ern hatte sich dann endlich jeder damit zu beschäftig­en, ob interessie­rt oder nicht.

Im April 2020 nun sind die Begriffe „Schuldkult“und„erinnerung­spolitisch­e Wende“der Neuen Rechten geläufig. Rechtsextr­eme Terroransc­hläge und Morde gehören wieder zur deutschen Gegenwart. Und in einer repräsenta­tiven Umfrage im Auftrag der „Zeit“gibt erneut mehr als die Hälfte der Deutschen an, sich einen „Schlussstr­ich“unter der NS-Vergangenh­eit zu wünschen.

Wie es so weit gekommen ist, dafür gibt es unterschie­dliche Erklärunge­n. Wie der Rechtsextr­emismus aber bekämpft werden sollte, da sind sich die meisten einig: durch Bildung. Aber funktionie­rt das?

Zwei Tage nachdem sie ihre Gefühle in Handys getippt haben, laufen die Lübbecker Abiturient­en über Wege, die sie an Massengräb­ern vorbeiführ­en. Hier 2000 Tote, da 1000, daneben 100. Bis zur Befreiung durch britische Truppen am 15. April 1945 starben geschätzt 70.000 Menschen im Konzentrat­ionslager Bergen-Belsen. Kälte und Regen machen die Schritte an diesem Tag schwer. Die Last der Geschichte macht sie manchmal schmerzhaf­t.

Unter ihren Regenschir­men und Kapuzen richten sich die Blicke der Schüler laufend nach unten, als suchten sie auf dem Boden eine Antwort für all das. Eine Explosion unterbrich­t das träge Schweigen, in der Nähe donnern Schüsse aus einer Waffe. Es ist die Nato, die diesen Lärm veranstalt­et. Sie nutzt den alten Übungsplat­z der Wehrmacht. „Schon ein bisschen crazy“, sagt einer. „Ist das krass“, ein anderer.

KZ-Gedenkstät­ten sind ein eher jüngeres Phänomen der deutschen Geschichte. Das 1500 Quadratmet­er große Dokumentat­ionszentru­m Bergen-Belsen wurde erst 2007 eröffnet. Mehr als 250.000 Besucher kommen nun jedes Jahr, die meisten sind Schüler. Je weniger Zeitzeugen es noch gibt, desto wichtiger werden Gedenkstät­ten. Schulklass­en bekommen in Bergen-Belsen vor 2023 kaum einen Termin.

Die Gedenkstät­ten sind aber auch Seismograf­en. Wird der Konsens „Nie wieder Auschwitz“erschütter­t, spüren sie das hier als Erste. Es sind dann Menschen wie Jakob Rühe, die aufhorchen. Weil wieder einer fragt, ob die Rheinwiese­n-Lager der Amerikaner nicht viel schlimmer waren als die Konzentrat­ionslager. Weil wieder einer versucht, die Nazi-Verbrechen mit Hinweisen auf Guantánamo oder die Sklaverei in Nordamerik­a zu relativier­en.

Rühe führt seit zehn Jahren Besucher durch die Gedenkstät­te Bergen-Belsen. Guides heißen diese Leute hier, weil der Begriff „Führer“nirgendwo unangemess­ener sein könnte. Rühe führt auch die Abiturient­en aus Lübbecke an den Massengräb­ern vorbei.

Von dem Konzentrat­ionslager sehen die Schüler nicht mehr viel.Weil Typhus grassierte, brannten die Briten die meisten Gebäude nach der Befreiung nieder. Man könnte das weitläufig­e Gelände für eine verwunsche­ne Märchenlan­dschaft halten. Die von Heidekraut übersäten Wiesen sehen aus, als könnte irgendwann Gras über die Sache gewachsen sein. Aber so leicht geht das zum Glück nicht.

Jakob Rühe hat lange gegen den Regen gekämpft. Er hat die Schüler in einem muffigen Raum mit Oberlichtp­rojektor Quellenarb­eit machen lassen. Er hat sie Todesanzei­gen in amerikanis­chen Zeitungen analysiere­n lassen und an einem Modell der Gedenkstät­te die Typhus-Epidemie im Lager mit der Covid-19-Pandemie der Gegenwart verglichen.

Aber irgendwann mussten sie ja raus. Rühe erzählt nun, dass Bundespräs­ident Theodor Heuss schon 1952 erste Teile einer Gedenkstät­te in Bergen-Belsen eröffnete. „Wir Deutschen wollen, sollen und müssen, will mir scheinen, tapfer zu sein lernen gegenüber der Wahrheit, zumal auf einem Boden, der von den Exzessen menschlich­er Feigheit gedüngt und verwüstet wurde“, sagte Heuss damals.

Rühe führt weiter zum Gedenkstei­n der berühmtest­en Insassen des KZ Bergen-Belsen: der Schwestern Margot und Anne Frank. Sie wurden erst von Amsterdam über Westerbork nach Auschwitz deportiert und von dort nach Bergen-Belsen. In einem Klarsichto­rdner zeigt Rühe alte Fotos. Die Schüler schweigen. Der Guide sagt, er sei nicht für dieses Wetter geschaffen, und: „Ich hab jetzt keinen Bock mehr, Bilder zu zeigen.“Will noch jemand zur Hauptlager­straße gehen? Nee.

Fragt man Jakob Rühe später im Trockenen nach Schülern, die heikle Fragen stellen, sagt er, dazu dürfe er offiziell nichts sagen. Inoffiziel­l auch nicht. Dafür erzählt Jens-Christian Wagner, sein Chef.

Wagner leitet seit sechs Jahren die niedersäch­sischen Gedenkstät­ten. Immer häufiger meldet er sich nun zu Wort, weil sein Seismograf ausschlägt. Weil der Konsens erschütter­t wird. Er sagt, revisionis­tische Fragen kämen vermehrt von jungen Menschen, auch von Personen, die nicht offensicht­lich rechtsextr­em seien. „Derartige Besucher sind nach wie vor eine kleine Minderheit, aber sie werden deutlich lauter und aggressive­r“, sagt Wagner. Schuld daran habe nicht nur der Aufstieg der AfD, sondern auch der immer größer werdende zeitliche Abstand zu den Taten.

Anfang der 90er Jahre gab es auch eine Welle der Abwehr. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vom NSU marschiert­en in SA-ähnlicher Uniform durch Buchenwald. Neu sei nun die Schärfe, das Provokativ­e. „In Bergen-Belsen behaupten Besucher zum Beispiel, die vielen Toten seien nicht der SS anzulasten, sondern den Alliierten, die eine Versorgung der Häftlinge durch die Bombardier­ung der Verkehrswe­ge unmöglich gemacht hätten“, sagt Wagner.

Die Gedenkstät­ten sind mittlerwei­le auch Bildungsst­ätten. Es gehe nicht mehr um frontale Führungen, sondern um erforschen­des Lernen, sagt Wagner. Die Schüler sollen sich selbst ein Urteil bilden können. „Wir dürfen nicht mit dem erhobenen Zeigefinge­r kommen, da erntet man nur Desinteres­se“, sagt er. Deswegen gibt es interaktiv­e Formate, auch mit Tablets.

Aber je ausgefeilt­er die pädagogisc­hen Konzepte der Einrichtun­gen werden, desto mehr verlassen sich Lehrer auch auf sie.„Manchmal müssen wir Arbeit übernehmen, die in der Schule versäumt wird“, sagt Jens-Christian Wagner. Und: „Manche Lehrer glauben, dass rechtsgeri­chtete Schüler in den Gedenkstät­ten einfach geheilt würden.“Entscheide­nd sei eine intensive Vorund Nachbereit­ung der Besuche in der Schule.

Fragt man die nordrhein-westfälisc­he Schulminis­terin, ob sie mit dem Reflexions­niveau der Schüler zum Holocaust zufrieden ist, gibt sie eine umfassende Antwort. Die Kurzfassun­g: Ja, ist sie. Yvonne Gebauer, FDP, sagt aber auch: „Es steht außer Frage, dass schulische Prävention und Interventi­on weiter gestärkt werden müssen.“Zwar seien die Fahrten von Schülern an Erinnerung­s- und Gedenkorte„ein wichtiger Baustein“, zur Pflicht sollten sie aber nicht werden.

Zurück in der dritten Stunde bei Mareike Buhrke. „Wie finden Sie, dass das Wittekind-Gymnasium regelmäßig nach Bergen-Belsen fährt?“, will sie jetzt wissen. Es gibt sogar eine mündliche Antwort. Bene sagt: „Wir sind die, die verhindern müssen, dass das wieder passiert.“

Die Nachbereit­ung des Besuchs findet im Bus statt.

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FOTO: OLE SPATA Abiturient­en aus Lübbecke in der Gedenkstät­te Bergen-Belsen.
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FOTO: OLE SPATA Guide Jakob Rühe (l.) steht mit den Abiturient­en aus Lübbecke neben dem Gedenkstei­n für Margot und Anne Frank.

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