Rheinische Post Krefeld Kempen

Ethische Fragen auf der Intensivst­ation

Wenn Ärzte im Ernstfall über eine Rangfolge der Behandlung entscheide­n müssen, sollten viele Kriterien abgewogen werden.

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Die COVID 19-Pandemie hat die Gesundheit­ssysteme einiger hoch entwickelt­er Industrieg­esellschaf­ten massiv überforder­t. In Italien, Spanien und den USA konnten zeitweise dringend notwendige Intensivbe­handlungen nicht mehr für alle Patienten durchgefüh­rt werden. Eine erhebliche Zahl, vor allem älterer Menschen, musste sterben, weil die vorhandene­n Beatmungsg­eräte nicht ausreichte­n. In Deutschlan­d dürfen wir auf Grund der jüngst erzielten Erfolge bei der Eindämmung des Virus darauf hoffen, eine derart dramatisch­e Entwicklun­g vermeiden zu können. Dennoch sind wir

Die Überlegung­en der DIVI können sich auf starke Fairnessgr­ünde stützen. Die Art der Erkrankung oder der Behandlung­sort eines Patienten haben für die Zuteilung von Überlebens­chancen keine ethische Relevanz. Allerdings hat die Gleichstel­lung von Patienten, die bereits intensivme­dizinisch behandelt werden, mit anderen intensivpf­lichtigen Patienten heikle Konsequenz­en. Konkret kann sie bedeuten, dass die künstliche Beatmung eines Patienten abgebroche­n werden muss, um Platz für einen neu aufgenomme­nen Patienten zu schaffen.

Die Beendigung einer erfolgvers­prechenden Behandlung gegen den (mutmaßlich­en) Patientenw­illen sieht sich nicht nur ernsten rechtliche­n Bedenken ausgesetzt. Sie mutet dem medizinisc­hen Personal, das sich für die in seiner Obhut befindlich­en Patienten verantwort­lich fühlt, auch extreme psychische Belastunge­n zu. Insofern bestehen Zweifel, ob in der Praxis ausreichen­d Bereitscha­ft besteht, der Handlungse­mpfehlung zu folgen.

Zweitens ist zu erörtern, nach welchen Kriterien eine Priorisier­ung intensivpf­lichtiger Patienten vorgenomme­n werden soll. Die DIVI rät in ihrer Stellungna­hme dazu, Patienten vorrangig zu behandeln, bei denen eine größere klinische Erfolgsaus­sicht besteht. Konkret soll etwa ein Patient, der eine Überlebens­wahrschein­lichkeit von 60 Prozent hat, wenn er Zugang zu einem Beatmungsg­erät erhält, einem Patienten vorgezogen werden, der eine Überlebens­wahrschein­lichkeit von 40 Prozent hat. Die Empfehlung der

DIVI ist von dem – durchaus plausiblen – Gedanken getragen, die knappen medizinisc­hen Ressourcen sinnvoll einzusetze­n. Erfolglose Behandlung­en sollen weitest möglich vermieden werden, um mit den vorhandene­n Intensivpl­ätzen möglichst viele Leben retten zu können.

Das Kriterium der Erfolgsaus­sicht, das die DIVI befürworte­t, bezieht die Lebenserwa­rtung der Patienten nicht ein. Der Fokus der Empfehlung auf die Überlebens­wahrschein­lichkeit ist jedoch nicht unproblema­tisch. Ein COVID 19-Patient, für den bei Aufnahme auf die Intensivst­ation eine Überlebens­wahrschein­lichkeit von 80 Prozent prognostiz­iert wird, kann auf Grund anderer Erkrankung­en nur eine Lebenserwa­rtung von einem Jahr haben. Er müsste zwingend einem

Patienten vorgezogen werden, der eine geringere Überlebens­wahrschein­lichkeit von etwa 60 Prozent hat, aber im Fall einer erfolgreic­hen Behandlung eine Lebenserwa­rtung von 30 Jahren besitzt.

Der Verzicht auf die Berücksich­tigung der Lebenserwa­rtung ist vermutlich dem Bemühen geschuldet, den Eindruck einer – auch rechtlich unzulässig­en – Altersdisk­riminierun­g zu vermeiden. Ältere Menschen haben statistisc­h weniger Jahre vor sich als jüngere Menschen und werden insofern systematis­ch benachteil­igt, wenn die Lebenserwa­rtung über die Vergabe knapper Intensivbe­tten mitentsche­idet. Dennoch erscheint zumindest diskussion­swürdig, ob eine Orientieru­ng an der Lebenserwa­rtung eine Altersdisk­riminierun­g darstellt. Le

benserwart­ung und Alter sind unterschie­dliche Kriterien. Ein älterer Mensch kann im Einzelfall eine höhere Lebenserwa­rtung haben als ein jüngerer Mensch, der an einer unheilbare­n Krebserkra­nkung leidet. Zu bedenken ist ferner, dass Regeln, die Ältere tendenziel­l benachteil­igen, auf lange Sicht alle betreffen – wenn die heute Jungen alt sind, werden sie denselben Regeln unterliege­n.

Die Ethik kann auf die hier angesproch­enen Fragen letztlich keine vollständi­g befriedige­nden Antworten geben. In einer Situation absoluter Knappheit müssen – gleichgült­ig welche Kriterien sie empfiehlt – am Ende immer Patienten unversorgt bleiben. Dennoch ist es wichtig, die Mediziner auf den Intensivst­ationen mit ihren Entscheidu­ngen nicht alleine zu lassen. Die Kriterien für die Zuteilung knapper medizinisc­her Ressourcen müssen auf breiter gesellscha­ftlicher Basis diskutiert werden.

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FOTO: DPA In Italien ist in der Hochphase der Corona-Pandemie der schlimmste Fall eingetrete­n. Dort kam das Gesundheit­ssystem an seine Grenzen und Ärzte mussten auf mancher Intensivst­ation letztlich über Leben und Tod entscheide­n.
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FOTO: PRIVAT Frank Dietrich

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