Rheinische Post Krefeld Kempen
Geboren in Theresienstadt
Thomas Gabelins Leben begann am 21. Dezember 1944. Geburtsort: die Hohenelber Kaserne, Theresienstadt. Was für ein Erbe. - „Was für ein Glück“, sagt der 75-jährige Krefelder. Eine bewegende Geschichte zum 8. Mai, dem Tag des Gedenkens an das Kriegsende heute vor 75 Jahren.
Es war nie ein Geheimnis. Thomas Gabelin hat immer gewusst, wo er geboren wurde. Die Umstände wurden ihm erst nach und nach klar. Und bis er sich die Auswirkungen erklären konnte, hat es viele Jahre gedauert. Wie soll ein Kind auch ermessen, was es bedeutet, als Sohn einer jüdischen Mutter in Theresienstadt geboren worden zu sein, einem Vernichtungslager der Nazis, wo ein Säugling wenig Chancen aufs Überleben hatte? „Ich habe gewusst, dass ich im KZ geboren bin. Es war nicht schwierig, darüber zu reden mit meiner Mutter.VomVater weiß ich praktisch nichts über jene Zeit, aber meine Mutter hat mir alle Fragen beantwortet“, sagt Gabelin. Heute ist er einer jener Zeitzeugen, die Gespräche in Schulen führen, und er engagiert sich als Vorstandsmitglied im Verein „Child Survivors Deutschland – Überlebende Kinder der Shoah“. Er will Erinnerung lebendig halten. Das ist ihm Verpflichtung. Denn wenn er auf sein Leben schaut, sagt er: „Was für ein Glück.“
Das meint er aus tiefem Herzen: Auch wenn 65 Verwandte aus den jüdischen Zweigen seiner Familie während des Naziregimes umgebracht worden, einige Schicksale immer noch ungeklärt sind. „Aber vier Generationen haben überlebt: Meine Urgroßmutter, meine Großmutter, meine Eltern und ich“, sagt er. Und dabei hat das Glück dem Schicksal oft den Dreh zum Guten gegeben. Seine Mutter Lore, geborene Müller, war Kind einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters; sein Vater stammte ebenfalls aus einer katholisch-jüdischen Ehe. 1943 wurden beide als Juden eingestuft, am 17. September 1944 wurden sie festgenommen und zu einem Sammelplatz gebracht. Durch Zufall stand ihr zweijähriger Sohn Richard nicht auf der Liste und konnte beim Großvater in Krefeld bleiben, während seine Eltern, seine Tante und seine Großmutter deportiert wurden. Der Transport ging ins Lager Theresienstadt. Lore Gabelin war im sechsten Monat schwanger. Sie wurde in der Glimmerspalterei eingesetzt und entging wegen der kriegswichtigen Aufgabe dem Weitertransport nach Auschwitz.
Aber in Theresienstadt gab es nicht nur Hunger, Zwangsarbeit und Schikanen durch die Aufpasser. „Es gab auch Zwangskaiserschnitte, bei denen den Schwangeren die Ungeborenen aus dem Bauch geholt und dem Tod überlassen wurden“, berichtet Gabelin. Er kam am 21. Dezember 1944 in der Hohenelber Kaserne, dem Krankenhaus von Theresienstadt, zur Welt – als Daniel. „Meine Mutter musste mich so nennen, aber der Namen hat nie eine Rolle gespielt.“Und, wieder eine Fügung, auf den Transportnummern, die in die Kleidung eingenäht wurden, wird er als „Thomas Gabelin,
Konzentrationslager stadt“, geführt.
Am 20. August 1945 ist die Familie in Krefeld wieder vereint, mit dem erstgeborenen Sohn Richard, der seine Eltern nicht mehr kannte. „Das muss hart für meine Mutter gewesen sein. Sie hatte so viel Kraft, auch dass sie mich irgendwie im Lager durchgebracht hat. Meine Mutter war ein Stehaufmännchen mit viel, viel Humor. Damals hat sie weniger als 50 Kilo gewogen“, erzählt Gabelin. Seine Erinnerungen setzen ein, wo das Familienleben so
Theresien
ist wie in vielen Krefelder Familien in diesen Jahren. Zumindest an der Oberfläche. „Ich habe mich immer anders gefühlt als meine Klassenkameraden. Ich war kein Außenseiter, aber ich fühlte mich fremd und wusste nicht, warum. Das habe ich erst begriffen in meiner Ausbildung zum Therapeuten.“Gabelin ist promovierter Psychologe, hat aus der Erziehungsberatungsstelle der Stadt den Psychologischen Dienst aufgebaut, den er über viele Jahre geleitet hat.„Ich habe viel Empathie für Kinder und kann mich besonders auch in die Probleme der Flüchtlinge gut einfühlen“, sagt er.
Ausgrenzung hat er selten direkt erfahren, sagt er. Aber an ein Erlebnis erinnert er sich, es war zu seiner Schulzeit am Fichte-Gymnasium. „Eigentlich war es nur den Schülern erlaubt, mit dem Fahrrad zu kommen, die mindestens vier Kilometer entfernt wohnten. Ich hab es trotzdem gemacht. Mein Rad habe ich an einen Baum gestellt, daneben lag ein Rad auf dem Boden. Der Junge, dem es wohl gehörte, kam und rief: ,Du dreckiger Jude. Ich wünschte, sie hätten alle vergast.‘ Das habe ich zu Hause erzählt. Mein Vater ist sofort zum Direktor. Der Junge wurde von der Schule genommen“, erzählt Gabelin. Das war die Zeit, in der immer mehr Fragen auftauchten. „Ich habe damals schon auch die älteren Erwachsenen angesehen und gedacht: Was hast du damals gemacht?“Im Unterricht wagten sich nur wenige Lehrer an das heiße Eisen.„Das wirkliche Bewusstsein hat bei mir die Fernsehserie ,Holocaust’ geschaffen. Die hat mehr vermittelt als Zahlen. Das hat tiefe Empathie in mir geweckt für meine Mutter, meine Tante und alle anderen.“
1970 ist er zum ersten Mal nach Theresienstadt gefahren – gemeinsam mit seiner Mutter. „Sie hat mir das Hospital gezeigt, wo sie entbunden hat, das Gebäude, wo sie gewohnt hat. Inzwischen ist das alles Museum. Damals war es nur trist, es gab wenig zu sehen“, erinnert er sich. „Wie habe ich es empfunden? Für mich ist es ein Museum. Eine Beziehung habe ich nur zum Grab meiner Großmutter auf dem Gedenkfriedhof.“
Theresienstadt ist ein wirkmächtiges Kapitel in der Familiengeschichte mit so viel Glück und so viel Unglück: Als Lore Gabelin ins Hospital zur Entbindung kam, traf sie dort ihre Großmutter. Im Februar 1945 kamen auch ihre Mutter und ihre Schwester nach Theresienstadt. Das Lager wurde Anfang 1945 befreit. Doch Lore Gabelins Mutter starb am 1. Juni an Typhus. Sie hatte sich im Lager infiziert.
„Viele Informationen über jene Zeit verdanke ich Ingrid Schupetta“, sagt Gabelin. Die frühere Leiterin der NS-Dokumentationsstelle hatte zu den Deportationen aus Krefeld und zum Schicksal der Verfolgten und Ermordeten intensiv geforscht und Interviews mit Lore Gabelin geführt. Mit jeder Frage, die Gabelin stellte, mit jeder Antwort, die er erhielt, wurde ihm klarer, dass es seine Lebensaufgabe sei, Erinnerung wach zu halten. So ist ihm auch das eigene Leben klarer geworden. „Ich hatte zum Beispiel nie Heimweh. Auch nicht, als ich ein Austauschjahr in den USA gemacht habe. Das kommt wohl daher, dass man nicht weiß, wohin man gehört. Ich fühle mich nirgends zugehörig, außer zu meiner Familie.“Die Ehefrau, die beiden Töchter mit ihren Ehemännern und Kindern sind sein Band im Leben. „Freundschaft ist für mich ein hoher Wert. Aber einen besten Freund habe ich nicht. Ich gucke immer nach innen. Auf die Familie. Das hat, denke ich, mit der Vergangenheit zu tun.“
Lore Gabelin ist 1995 gestorben. Die letzte Reise mit seiner Mutter und seiner Tante führte noch einmal nach Theresienstadt. Auch seinen Kindern und Enkeln hat er diesen Teil der Familiengeschichte gezeigt. „Ich fühle mich all den Toten gegenüber verpflichtet, heute noch stärker als früher“, sagt er. „Ich war nicht einer von 60 Millionen. Das ist für mich pures Glück.“