Rheinische Post Krefeld Kempen
Versuch macht klug
ANALYSE
So viel Demut war selten. Er glaube, dass „wir miteinander wahrscheinlich viel werden verzeihen müssen in ein paar Monaten“, sagte unlängst Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. In mancher Frage sei man bei den Einschränkungen des öffentlichen Lebens „zu weit gegangen“, gestand Ende April Berlins Kultursenator Klaus Lederer ein. Und auch Virologe Christian Drosten korrigiert immer wieder eigene Fehleinschätzungen, einmal etwa mit dem Satz: „Ich habe da zu kurz gedacht.“
Korrekturen überall; Lederer, Spahn und Drosten stehen für viele. Die Demut, die aus ihnen spricht, ist eine Demut vor den Fakten. Für die Pandemie, oder zumindest für den Schaden, den sie anrichtet, gibt es keine Präzedenzfälle. Ja, wir mögen aus den Erfahrungen mit der Spanischen Grippe Erkenntnisse ableiten – aber ob wir richtig gehandelt haben, lässt sich aus der Vergangenheit nicht erkennen, einfach schon deshalb, weil die Verhältnisse vor 100 Jahren ganz andere waren. Für eine Beurteilung sind wir ganz auf die Gegenwart angewiesen, sozusagen auf unsere politische, wirtschaftliche und medizinische Schlagfertigkeit.
Dass in der beispiellosen Ausnahmelage mehr Fehler gemacht werden als in normalen Zeiten, liegt auf der Hand. Dass ihre Urheber sie korrigieren und öffentlich benennen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke.Versuch und Irrtum: Maßnahmen, die sich nicht bewähren, werden angepasst. Zugegeben eine idealtypische Vorstellung, aber im Kern trifft sie zu; die Krise legt nur diese Funktionsweise unserer Gesellschaft in aller Deutlichkeit offen.
Neuerdings ist das in Seuchensachen sogar Regierungspolitik: Erleichterungen gelten, aber nur solange und falls die Quote der Infektionen eine bestimmte Marke nicht übersteigt. Mit Lockerungen, man muss es ohne Hohn so
Flach atmen. Kopf runter. Am Stift kauen. Nachdenklich gucken. Ich möchte aussehen, als arbeitete ich hart. Denn ich werde beobachtet, wie ich genau diesen Text schreibe. Ich sitze daheim vor meinem Rechner, seit 20 Jahren fast jeden Tag, seit zwei Monaten noch mehr. Aber ich bin nicht allein. Drei Frauen könnten jederzeit aufblicken, würden sie nicht gerade selbst an ihren Texten doktern. Wir haben uns an ein Experiment gewagt, das Schriftsteller in Großbritannien erfunden haben sollen: kollektives, digitales Schreiben. Per Internet gucken wir uns gegenseitig beim Arbeiten zu.
Simone sitzt in Hamburg, Berit in sagen, wird experimentiert – Friedrich Merz hat das Prinzip bereits Anfang April auf Twitter so gefasst: „Ein Exitstrategie-Verfahren wäre Versuch und Irrtum, dass man also möglicherweise lockert, aber dann nach einigen Tagen, wenn die Infektionszahlen wieder sehr stark ansteigen, diese Lockerung zurücknimmt. Es wäre kein Fehler, so etwas zu machen.“Merz ist dafür heftig kritisiert worden; zynisch und verantwortungslos, hieß es häufig.
Allerdings muss man sagen: Der Mann hat recht. Nicht weil das sicher die richtige Linie wäre (wer weiß das schon?), nicht wegen der Frist „einiger Tage“(zu kurz), sondern weil er ein Grundprinzip unseres öffentlichen Handelns benannte: eben Versuch und Irrtum. Es ist die Säule einer rationalistischen Politik. Kaum jemand hat dieses Prinzip im 20. Jahrhundert leidenschaftlicher verteidigt als Karl Popper (1902–1994). In „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“schreibt Popper zur Methode von Versuch und Irrtum: „Sie allein erlaubt es uns, durch Erfahrung und Analyse herauszufinden, was wir wirklich getan haben, wenn wir mit einem bestimmten Ziel vor Augen intervenierten.“Der Volksmund fasst es knapper: Versuch macht klug.
Das ist auf Politik gemünzt, steht aber in einem Buch über Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsmethode. Der einzig gangbare Weg ist für Popper der„des Erfindens von Hypothesen, die sich praktisch überprüfen lassen, und ihre praktische Überprüfung“. Nur so vollzieht sich Erkenntnis: durch Kritik, Revision und Öffentlichkeit. Popper spricht von „Vermutungswissen“: Anspruch auf Geltung hat, was nicht widerlegt ist, solange es nicht widerlegt ist.
Nun darf man diesen Ansatz nicht ins Vulgäre ziehen. Er bedeutet nicht, dass jeder einfach irgendetwas Obskures behaupten und dann beanspruchen kann, das sei richtig, nur weil das Gegenteil nicht unmittelbar zu beweisen ist. Das ist der Tod jeder sinnvollen Kommunikation – schönen Gruß an die Corona-Verschwörungstheoretiker. Popper hat sein Prinzip für die wissenschaftliche Erkenntnis formuliert, und die lebt von Hypothesen, also von begründeten Vermutungen, die sich aus Quellen speisen, die der Forscher offenlegt.
Politik ist keine Wissenschaft, zugegeben, sie funktioniert nach ganz anderen Kriterien – aber in diesem Punkt sind sich die beiden Systeme sehr ähnlich. Auch Politik muss begründet werden, um Chancen auf Erfolg (nämlich beim Wähler) zu haben. Und auch Politik folgt, zumindest sollte sie das, als richtig Erkanntem. Popper selbst hat diese Parallele gesehen und in den schönen Satz verpackt: „Die Praxis ist nicht der Feind des theoretischen Wissens, sondern sein wertvollster Anreiz.“Deswegen ist zum Beispiel auch der häufig gehörte Vorwurf billig, die Schulpolitik experimentiere mit Kindern. Im Kern trifft die Beobachtung zu, nur müsste derVorwurf eigentlich ein Lob sein: Den Fortschritt der Wissenschaft, in diesem Fall der Pädagogik, auf die Praxis anzuwenden, ist Aufgabe der Politik, wenn sie nicht reaktionär sein will.
Was nun freilich richtig ist, darüber gehen die (Welt-)Anschauungen weit auseinander; allenfalls auf ein Grundprinzip wie die Goldene Regel dürften sich Demokraten einigen können: andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Alles andere ist Ansichts-, man könnte auch sagen: politische Geschmackssache. Und trotzdem folgt auch Politik, zumindest sinnvolle Politik, dem Popper-Prinzip: Wenn etwas nicht funktioniert, finde einen anderen Weg. Die CSU redet heute in der Asylpolitik ganz anders als vor drei, vier Jahren – 37 Prozent bei der Landtagswahl machen demütig.
Politiker haben sich wie Ingenieure bis zu einem gewissen Punkt nach Zahlen zu richten, um die Güte ihrer Arbeit zu beurteilen: Wirtschaftsleistung, Arbeitslosigkeit, Lernstandserhebungen. Die Corona-Krise hat diese Mathematisierung auf die Spitze getrieben – plötzlich sprachen alle von Zuwachsraten, Verdopplungszeiten, Reproduktionszahlen.Wohl nie warenWissenschaftler so einflussreich wie derzeit, nie ist die Politik so willig der Wissenschaft gefolgt.
Und trotzdem gibt es Grenzen dieses Ansatzes. Zum Beispiel ist das nur fühlbare menschliche Leid der Alten ein starkes Argument gegen virologisch vielleicht gebotene maximale Abschottung. Womöglich ein stärkeres als das ausrechenbare Infektionsrisiko. Zumindest solange sich unsere derzeitigen Annahmen und Hoffnungen nicht als falsch erwiesen haben.
„Die Praxis ist nicht der Feind des theoretischen Wissens, sondern sein wertvollster Anreiz“Karl Popper
Philosoph