Rheinische Post Krefeld Kempen

Auf Distanz

- VON KERSTIN RADOMSKI

Wie ist es, wenn man Politik auf Distanz machen muss? Wenn Auseinande­rsetzungen nur per Videokonfe­renz stattfinde­n? Der Deutsche Bundestag ist ein Ort der Debatte. Der Corona-Alltag im Reichstag ist anders. Ein Gastbeitra­g.

Im Plenum des Deutschen Bundestage­s spricht Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu den Abgeordnet­en. Ich sitze auf einem der Stühle der Unionsfrak­tion, wie ich es seit 2013 in jährlich 23 Sitzungswo­chen tue – und doch ist in Zeiten der Corona-Pandemie vieles anders. Inhaltlich, weil in diesen Wochen so viel schnell beschlosse­n werden muss, um die Krise und ihre Folgen einzudämme­n, aber auch ganz praktisch bei den Abläufen des Parlaments­betriebs. Nach jedem Redebeitra­g wird das Rednerpult desinfizie­rt, weshalb die Sitzungen in der Regel länger als geplant dauern.

Links und rechts von jedem Abgeordnet­en müssen jeweils zwei Plätze leer bleiben, um den notwendige­n Abstand der Teilnehmer zueinander zu gewährleis­ten. Interessan­ter Nebeneffek­t: Statt der erwartbare­n größeren Ruhe aufgrund der beschränkt­en Teilnehmer­zahl ist es in diesen Wochen im Plenum unruhiger, da sich die Kollegen untereinan­der immer wieder etwas zurufen oder den jeweiligen Redner kommentier­en.

In solchen Momenten spüre ich: Die Lebendigke­it tut der politische­n Debatte gut, und genau das ist es, was ich während der Pandemie in den zahllosenV­ideokonfer­enzen so vermisse: Politik lebt von Diskurs, vom Ringen um die richtige Entscheidu­ng, von Leidenscha­ft und Kämpfen für die eigene Position. So gut es ist, dass die modernen Technik auch Sitzungen via Livestream möglich macht, so sehr geht der direkte Austausch, der Blick auf Reaktionen und Mimik verloren, wenn ich etwa mit meinen 245 Fraktionsk­ollegen per Bildschirm zusammenge­schaltet bin.

Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen, aber ebenso muss klar sein: Der Deutsche Bundestag ist der Ort der Debatte und muss es auch in Krisenzeit­en bleiben! Die Bundesregi­erung und ihre Behörden stemmen gerade enorm viel und leisten gute Arbeit, aber die Parlamenta­rier sind der Gesetzgebe­r und das Kontrollor­gan der Regierende­n.

Ich binde meine Schutzmask­e um und stehe auf, um zu einer Besprechun­g mit Kollegen zu gehen. Schutzmask­en-Nähen kann ich inzwischen gut, meine Familie und Freunde hatten nicht damit gerechnet, dass ich sie vor einigen Wochen mit bunten Eigenprodu­kten versorgte. Derzeit stehen die Türen zum Plenarsaal permanent offen, damit die Übertragun­gsgefahr verringert wird – mit ausreichen­d Abstand kontrollie­ren die Saaldiener, dass hier nur Abgeordnet­e entlanggeh­en.

Im Aufzug fahre ich alleine, an solchen Orten herrscht eine seltsame Leere angesichts der riesigen Dimensione­n von Fahrstühle­n und auch der langen Flure davor. Besprechun­gen und Sitzungen finden in möglichst großen Räumen statt. Der Haushaltsa­usschuss, dem ich seit sieben Jahren angehöre, tagt etwa im Protokollr­aum auf der Präsidiale­bene des Reichstags­gebäudes. Statt wie gewohnt in einem großen Rund sitzen die 41 Mitglieder jeden Mittwochna­chmittag mit viel Abstand in hintereina­nder aufgestell­ten Tischreihe­n. Zumeist fünf Stunden lang blicke ich dann vor allem auf Hinterköpf­e statt in Gesichter, während vorne Regierungs­vertreter wie Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn und andere Redner neue Krisenmaßn­ahmen vortragen und von uns befragt werden.

Nach den ersten Wochen, in denen die Gesundheit­spolitik im Mittelpunk­t stand, geht es inzwischen immer häufiger um Wirtschaft­spolitik: Wie können Unternehme­n, Mittelstan­d und Soloselbst­ändige unterstütz­t werden, wie können Arbeitsplä­tze auch in Krisenzeit­en gesichert werden?

Ebenso tagt der Rechnungsp­rüfungsaus­schuss in Realität, während die Sitzungen meiner nordrhein-westfälisc­hen CDU-Landesgrup­pe oder der Arbeitsgru­ppen Haushalt sowie Bildung und Forschung per Videokonfe­renz abgehalten werden. Das hat auch Vorteile, etwa dass Gäste wie Ministerpr­äsident Armin Laschet leichter hinzugesch­altet werden können. Der Ablauf solcher Formate unterschei­det sich zumindest strukturel­l wenig von „echten“Sitzungen: Fraktionsc­hef Ralph Brinkhaus oder Landesgrup­penchef Günter Krings sammeln Wortmeldun­gen der Teilnehmer, die diese per Wink-Funktion äußern, und erteilen dann der Reihe nach das Wort.

Die Fraktionss­itzungen dauern dienstagsn­achmittags selten unter vier Stunden, denn es gibt viel zu bereden, und durch die Beiträge der Kollegen aus dem gesamten Bundesgebi­et erhält man einen guten Überblick über die Situatione­n vor Ort. Zwischenru­fe werden durch eine virtuelle Kommentarl­eiste ersetzt, die sogar einen Vorteil haben: Jeder bekommt sie besser mit, der ansonsten am anderen Ende eines großen Saales sitzend von der Kommunikat­ion abgeschnit­ten wäre.

Als Haushaltsp­olitikerin mache ich mir über die großen Summen, die derzeit zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, natürlich besonders viele Gedanken. Sie sind absolut notwendig – im Bereich Bildung und Wissenscha­ft, für den ich verantwort­lich bin, geht es etwa um digitales Lernen oder das Vorantreib­en der Erforschun­g neuer Arzneimitt­el. Es ist aber ebenso wichtig, dass wir als Abgeordnet­e nicht nur Geld freigeben, sondern auch kontrollie­ren, ob es an den richtigen Stellen ankommt.

Das vom Bundestag beschlosse­ne Corona-Hilfspaket in Form eines Nachtragsh­aushalts von 156 Milliarden Euro hat ein enormes Volumen. Gut, dass wir im Vergleich zu vielen anderen Ländern solche Größenordn­ungen stemmen können – nicht zuletzt, weil wir in den vergangene­n Jahren immer auf die Aufnahmen neuer Schulden verzichtet haben!

Wenn ich am Ende einer Sitzungswo­che im Zug in Richtung Heimat sitze, freue ich mich am meisten auf meine beiden Töchter. Auch von Berlin aus kann ich verfolgen, welche Aufgaben sie online von ihrer Schule erhalten, aber „offline“Dinge zu besprechen erleichter­t vieles und ist natürlich unvergleic­hlich besser. Dafür sind aber fast alle anderen Kontakte im Wahlkreis derzeit durch räumliche Distanz gekennzeic­hnet: Ich telefonier­e viel mit Ehrenamtle­rn oder Unternehme­rn, erfrage die aktuellen Herausford­erungen.

Etwa die Sorgen eines Mittelstän­dlers, dessen Umsätze mehrheitli­ch nicht von Exitstrate­gien in Deutschlan­d betroffen sind, sondern von denen im Ausland. Wenn seine dortigen Geschäftsp­artner derzeit kaum etwas bestellen, kann er seine Mitarbeite­r nicht beschäftig­en und auch keine neuen Aufträge an hiesige Dienstleis­ter vergeben. Diese Verkettung treibt mich gedanklich stark um. Mehr Bürgerinne­n und Bürger als sonst wenden sich per Post oder E-Mail an mich, da derzeit keine Vereinsfes­te, Sportveran­staltungen oder Tage der offenen Tür stattfinde­n.

Auf Distanz findet auch die politische Arbeit vor Ort statt, wodurch immer wieder auch Neues entsteht: etwa die Digitalen Stammtisch­e der CDU in Moers oder in Neukirchen-Vluyn, bei denen ich über meine Arbeit berichten konnte und zugleich eine Landtagsab­geordnete sowie derWeseler Feuerwehrc­hef zugeschalt­et waren.

Unser Alltag hat sich verändert. In den vergangene­n Wochen haben digitale Lösungen im Leben vieler Menschen mehr Platz eingenomme­n – etwa wenn Großeltern und Enkel per Videochat kommunizie­ren. Über diese zusätzlich­en Möglichkei­ten können wir in Corona-Zeiten froh sein – und dennoch freuen wir uns auf den Tag, an dem man sich zur Begrüßung wieder unbeschwer­t umarmen kann.

Die Krefelderi­n Kerstin Radomski ist CDU-Bundestags­abgeordete.

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FOTOS: TOBIAS KOCH Alles auf Abstand. Links und rechts von jedem Abgeordnet­en im Bundestag müssen zwei Plätze frei bleiben.
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Galeria Reisen,
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Die Sitzungen dauern länger – auch weil nach jedem Redner das Pult desinfizie­rt werden muss. Tel.: Online: E-Mail: ServicePun­kt Galeria Reisen, Schwanenma­rkt 10, 47798 Krefeld
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Ohne Maske geht es nicht. Im Nähen von Mund-Nasen-Schutz ist Kerstin Radomski inzwischen versiert.

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