Rheinische Post Krefeld Kempen
Auf Distanz
Wie ist es, wenn man Politik auf Distanz machen muss? Wenn Auseinandersetzungen nur per Videokonferenz stattfinden? Der Deutsche Bundestag ist ein Ort der Debatte. Der Corona-Alltag im Reichstag ist anders. Ein Gastbeitrag.
Im Plenum des Deutschen Bundestages spricht Bundeskanzlerin Angela Merkel zu den Abgeordneten. Ich sitze auf einem der Stühle der Unionsfraktion, wie ich es seit 2013 in jährlich 23 Sitzungswochen tue – und doch ist in Zeiten der Corona-Pandemie vieles anders. Inhaltlich, weil in diesen Wochen so viel schnell beschlossen werden muss, um die Krise und ihre Folgen einzudämmen, aber auch ganz praktisch bei den Abläufen des Parlamentsbetriebs. Nach jedem Redebeitrag wird das Rednerpult desinfiziert, weshalb die Sitzungen in der Regel länger als geplant dauern.
Links und rechts von jedem Abgeordneten müssen jeweils zwei Plätze leer bleiben, um den notwendigen Abstand der Teilnehmer zueinander zu gewährleisten. Interessanter Nebeneffekt: Statt der erwartbaren größeren Ruhe aufgrund der beschränkten Teilnehmerzahl ist es in diesen Wochen im Plenum unruhiger, da sich die Kollegen untereinander immer wieder etwas zurufen oder den jeweiligen Redner kommentieren.
In solchen Momenten spüre ich: Die Lebendigkeit tut der politischen Debatte gut, und genau das ist es, was ich während der Pandemie in den zahllosenVideokonferenzen so vermisse: Politik lebt von Diskurs, vom Ringen um die richtige Entscheidung, von Leidenschaft und Kämpfen für die eigene Position. So gut es ist, dass die modernen Technik auch Sitzungen via Livestream möglich macht, so sehr geht der direkte Austausch, der Blick auf Reaktionen und Mimik verloren, wenn ich etwa mit meinen 245 Fraktionskollegen per Bildschirm zusammengeschaltet bin.
Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen, aber ebenso muss klar sein: Der Deutsche Bundestag ist der Ort der Debatte und muss es auch in Krisenzeiten bleiben! Die Bundesregierung und ihre Behörden stemmen gerade enorm viel und leisten gute Arbeit, aber die Parlamentarier sind der Gesetzgeber und das Kontrollorgan der Regierenden.
Ich binde meine Schutzmaske um und stehe auf, um zu einer Besprechung mit Kollegen zu gehen. Schutzmasken-Nähen kann ich inzwischen gut, meine Familie und Freunde hatten nicht damit gerechnet, dass ich sie vor einigen Wochen mit bunten Eigenprodukten versorgte. Derzeit stehen die Türen zum Plenarsaal permanent offen, damit die Übertragungsgefahr verringert wird – mit ausreichend Abstand kontrollieren die Saaldiener, dass hier nur Abgeordnete entlanggehen.
Im Aufzug fahre ich alleine, an solchen Orten herrscht eine seltsame Leere angesichts der riesigen Dimensionen von Fahrstühlen und auch der langen Flure davor. Besprechungen und Sitzungen finden in möglichst großen Räumen statt. Der Haushaltsausschuss, dem ich seit sieben Jahren angehöre, tagt etwa im Protokollraum auf der Präsidialebene des Reichstagsgebäudes. Statt wie gewohnt in einem großen Rund sitzen die 41 Mitglieder jeden Mittwochnachmittag mit viel Abstand in hintereinander aufgestellten Tischreihen. Zumeist fünf Stunden lang blicke ich dann vor allem auf Hinterköpfe statt in Gesichter, während vorne Regierungsvertreter wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und andere Redner neue Krisenmaßnahmen vortragen und von uns befragt werden.
Nach den ersten Wochen, in denen die Gesundheitspolitik im Mittelpunkt stand, geht es inzwischen immer häufiger um Wirtschaftspolitik: Wie können Unternehmen, Mittelstand und Soloselbständige unterstützt werden, wie können Arbeitsplätze auch in Krisenzeiten gesichert werden?
Ebenso tagt der Rechnungsprüfungsausschuss in Realität, während die Sitzungen meiner nordrhein-westfälischen CDU-Landesgruppe oder der Arbeitsgruppen Haushalt sowie Bildung und Forschung per Videokonferenz abgehalten werden. Das hat auch Vorteile, etwa dass Gäste wie Ministerpräsident Armin Laschet leichter hinzugeschaltet werden können. Der Ablauf solcher Formate unterscheidet sich zumindest strukturell wenig von „echten“Sitzungen: Fraktionschef Ralph Brinkhaus oder Landesgruppenchef Günter Krings sammeln Wortmeldungen der Teilnehmer, die diese per Wink-Funktion äußern, und erteilen dann der Reihe nach das Wort.
Die Fraktionssitzungen dauern dienstagsnachmittags selten unter vier Stunden, denn es gibt viel zu bereden, und durch die Beiträge der Kollegen aus dem gesamten Bundesgebiet erhält man einen guten Überblick über die Situationen vor Ort. Zwischenrufe werden durch eine virtuelle Kommentarleiste ersetzt, die sogar einen Vorteil haben: Jeder bekommt sie besser mit, der ansonsten am anderen Ende eines großen Saales sitzend von der Kommunikation abgeschnitten wäre.
Als Haushaltspolitikerin mache ich mir über die großen Summen, die derzeit zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, natürlich besonders viele Gedanken. Sie sind absolut notwendig – im Bereich Bildung und Wissenschaft, für den ich verantwortlich bin, geht es etwa um digitales Lernen oder das Vorantreiben der Erforschung neuer Arzneimittel. Es ist aber ebenso wichtig, dass wir als Abgeordnete nicht nur Geld freigeben, sondern auch kontrollieren, ob es an den richtigen Stellen ankommt.
Das vom Bundestag beschlossene Corona-Hilfspaket in Form eines Nachtragshaushalts von 156 Milliarden Euro hat ein enormes Volumen. Gut, dass wir im Vergleich zu vielen anderen Ländern solche Größenordnungen stemmen können – nicht zuletzt, weil wir in den vergangenen Jahren immer auf die Aufnahmen neuer Schulden verzichtet haben!
Wenn ich am Ende einer Sitzungswoche im Zug in Richtung Heimat sitze, freue ich mich am meisten auf meine beiden Töchter. Auch von Berlin aus kann ich verfolgen, welche Aufgaben sie online von ihrer Schule erhalten, aber „offline“Dinge zu besprechen erleichtert vieles und ist natürlich unvergleichlich besser. Dafür sind aber fast alle anderen Kontakte im Wahlkreis derzeit durch räumliche Distanz gekennzeichnet: Ich telefoniere viel mit Ehrenamtlern oder Unternehmern, erfrage die aktuellen Herausforderungen.
Etwa die Sorgen eines Mittelständlers, dessen Umsätze mehrheitlich nicht von Exitstrategien in Deutschland betroffen sind, sondern von denen im Ausland. Wenn seine dortigen Geschäftspartner derzeit kaum etwas bestellen, kann er seine Mitarbeiter nicht beschäftigen und auch keine neuen Aufträge an hiesige Dienstleister vergeben. Diese Verkettung treibt mich gedanklich stark um. Mehr Bürgerinnen und Bürger als sonst wenden sich per Post oder E-Mail an mich, da derzeit keine Vereinsfeste, Sportveranstaltungen oder Tage der offenen Tür stattfinden.
Auf Distanz findet auch die politische Arbeit vor Ort statt, wodurch immer wieder auch Neues entsteht: etwa die Digitalen Stammtische der CDU in Moers oder in Neukirchen-Vluyn, bei denen ich über meine Arbeit berichten konnte und zugleich eine Landtagsabgeordnete sowie derWeseler Feuerwehrchef zugeschaltet waren.
Unser Alltag hat sich verändert. In den vergangenen Wochen haben digitale Lösungen im Leben vieler Menschen mehr Platz eingenommen – etwa wenn Großeltern und Enkel per Videochat kommunizieren. Über diese zusätzlichen Möglichkeiten können wir in Corona-Zeiten froh sein – und dennoch freuen wir uns auf den Tag, an dem man sich zur Begrüßung wieder unbeschwert umarmen kann.
Die Krefelderin Kerstin Radomski ist CDU-Bundestagsabgeordete.