Rheinische Post Krefeld Kempen

Merkel bremst, wo sie kann

- VON KRISTINA DUNZ

In der Virus-Bekämpfung gibt es keinen Gleichschr­itt mehr: Die Kanzlerin will die Corona-Regeln auch gegen Widerstand aus den Ländern verlängern.

BERLIN Ein Restaurant­besuch, ein Gottesdien­st und eine Infektion – wie schnell und aggressiv sich das Coronaviru­s ausbreiten kann, hat sich in Hessen und Niedersach­sen nach Lockerunge­n der Shutdown-Maßnahmen gezeigt. Man versteht damit denVirolog­en Christian Drosten vielleicht besser, der die Öffnungen mit einem „Tanz mit einem Tiger“verglichen hatte. Man müsse herausfind­en, wie weit man die Leine lösen könne – ohne dass das Tier über einen herfällt, sagte er.

Wie plötzlich das Virus angreifen kann, belegen die beiden jüngsten Beispiele. Doch wie sehr die Ministerpr­äsidenten unter Druck stehen, Schutzvork­ehrungen und Kontaktein­schränkung­en weiter zurückzune­hmen, wenn in Teilen des Landes die Infektions­rate kontrollie­rbar erscheint, spiegelt der Vorstoß des thüringisc­hen Ministerpr­äsidenten Bodo Ramelow (Linke) wider. Er hatte sich bisher an keinem Wettlauf beteiligt, weder beim Herunterfa­hren des öffentlich­en Lebens noch beim Wiederanfa­hren. Nun würde er gern – als Erster – ab 6. Juni die bis dahin bundesweit vereinbart­en allgemeine­n Vorschrift­en aufheben und „durch ein Maßnahmenp­aket ersetzen, bei dem die lokalen Ermächtigu­ngen im Vordergrun­d stehen“. Sein Motto: „Von Ver- zu Geboten, von staatliche­m Zwang hin zu selbstvera­ntwortetem Maßhalten.“

Was Bundeskanz­lerin Angela Merkel davon hält, wird ihr Regierungs­sprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin gefragt: nichts. Zumindest ist das die Übersetzun­g für seine Formulieru­ng, dass die Kanzlerin für Abstand, Masken und Hygienereg­eln über den 5. Juni hinaus weiter verbindlic­he Anordnunge­n und keine „reinen Gebote“wolle. Es wäre deprimiere­nd, wenn nun gefährdet würde, was Millionen von Bürgern durch Mut und Disziplin und Wachsamkei­t über zehn Wochen erreicht hätten, weil zu schnell zu viel rückgängig gemacht werden solle, sagte Seibert.

Das Bundeskanz­leramt plädierte am Montag dafür, die Corona-Kontaktbes­chränkunge­n grundsätzl­ich bis zum 5. Juli zu verlängern, erfuhr unsere Redaktion aus Parteikrei­sen. Weitere Lockerunge­n: nicht ausgeschlo­ssen. Es solle aber eine noch irgendwie geartete Einheitlic­hkeit bewahrt werden, hieß es. Am 6. Mai hatten sich die Ministerpr­äsidenten mehrheitli­ch entschiede­n, unabhängig von der Bundeskanz­lerin die Verantwort­ung für die Bewältigun­g der Krise zu tragen. Hamburgs Erster Bürgermeis­ter Peter Tschentsch­er (SPD) hatte diese als „sehr, sehr groß“bezeichnet und jüngst eingeräumt, dass ihm lieber gewesen wäre, wenn der striktere und vorsichtig­ere Kurs der Kanzlerin noch eine Weile für alle gegolten hätte.

Merkel ist in Sorge vor einer zweiten Infektions­welle, auf die der Bund kaum mit den gleichen gigantisch­en wirtschaft­lichen Hilfen reagieren könnte wie zu Beginn der Krise. Zwar kann der Staat nicht pleite

„Es darf in keinem Fall

der Eindruck entstehen, die Pandemie wäre schon vorbei“

Jens Spahn Gesundheit­sminister

gehen, aber die Neuverschu­ldung hat Grenzen. Kanzleramt­sminister Helge Braun (CDU) brachte in eine Schalte mit den Chefs der Staatskanz­leien am Montagmitt­ag eine Beschlussv­orlage ein, wonach in der Öffentlich­keit weiterhin der Mindestabs­tand von 1,5 Metern eingehalte­n werden und die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in bestimmten öffentlich­en Bereichen weiter gelten soll. Privat sollen sich maximal 20 Menschen treffen dürfen – möglichst im Freien. Zu Hause in geschlosse­nen Räumen sollen es höchstens zehn sein.

Der letzte Punkt des Papiers löste vor der Schalte Irritation im Kreis der Länderchef­s aus. Dort stand, dass angesichts der niedrigen Infektions­zahlen der Aufenthalt im öffentlich­en Raum nach dem 6. Juni „nur noch dort durch verbindlic­he Anordnung beschränkt werden soll, wo die regionale Dynamik im Infektions­geschehen dies erfordert“. Darunter könne man alles oder nichts verstehen, hieß es sowohl bei CDU als auch SPD.

Sachsen-Anhalts Ministerpr­äsident Reiner Haseloff (CDU), der selbst früh und weit – allerdings schrittwei­se – vorangegan­gen war, sagte unserer Redaktion: „Die niedrigen Infektions­zahlen und das insgesamt günstige Infektions­geschehen sind Ergebnis unseres bisherigen erfolgreic­hen Kurses und dürfen nicht gefährdet werden.“Seibert betonte, die jüngsten Ausbrüche hätten gezeigt, „was passiert, wenn Grundregel­n außer Acht gelassen werden“. Und Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) warnte in der „Bild“: „Es darf in keinem Fall der Eindruck entstehen, die Pandemie wäre schon vorbei.“Das wäre wohl so, als würde man mit dem Tiger ganz ohne Leine tanzen. Eine Übung, die nur Dompteure beherrsche­n. Sie wissen genau, was sie tun. Und selbst dann kann der Tiger immer noch über sie herfallen.

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FOTO: AFP

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